Leseposition speichern

Die Einstellung Ihrer Lesegewohnheit geht umfangreicher mit der Reader-Funktion Ihres Endgerätes. Hilfebereich.

Demnächst im Buchhandel

Mit dem Radlader ins Hotel

von Marc Krautwedel
Elisabeth Mayer: Mit dem Radlader ins Hotel

Schwiegertochteralarm

Lüneburg, Minsk, Lüneburg, Bardolino, Venedig, Ravenna, Loreto, Ascolii Piceno, Amalfitanische Küste, Pescara, Verona, Erding, Lüneburg – Durchatmen

 

„Mum, ich werde Katja heiraten.“

Es war ein schöner Tag im April, und wir saßen in der Schröderstraße von Lüneburg auf den Außenplätzen einer Kneipe von Freunden, unter einem Ahornbaum. Eigentlich wollten wir unsere bevorstehende Geschäftsreise nach Pescara in Italien besprechen. Mein Sohn würde dort an einem Meeting einer internationalen Organisation teilnehmen. Das Treffen war im Juli. Ich hatte vor, ihn zu begleiten. Etliche der Leute kannte ich besser als er. Zu vorherigen Terminen in New York, New Orleans und Dubai ließ er sich gern durch mich vertreten. Außer seiner Flugangst gab es keine tiefergehenden Gründe für diese Arbeitsteilung. Pescara war mit dem Auto zu erreichen. Er konnte selbst hin, ohne sich in die Hosen zu machen.

Geplant war ein Zwischenstopp in Verona, ein Halt in Venedig und ein Ausflug in die Abruzzen. Mir schwante, dass sich mit meiner gerade angedrohten, bevorstehenden Schwiegermutterschaft auch an den Reiseplänen etwas ändern würde. Andererseits bestand die Chance, ihn endlich dauerhaft an eine Frau, mit der er auch zusammen bliebe, loszuwerden. Allerdings war schon sein Vater von sich eingenommen. Junior ist noch eine Schippe drauf. Ich bin auf Seiten der Frauen. ›Katja, das arme Kind.‹ Aber er ist mein Sohn. Sein Wohl ist mein Job. Immer noch. „Liebst du sie?“

„Das weißt du doch.“

„Ihr sagt es euch ständig, und sicher seid ihr verliebt. Wäre das noch in zehn Jahren so, sollte sie krank sein und im Rollstuhl sitzen?“

Das klingt jetzt härter, als es sich anhört. Mit dieser Frage ist mein Sohn aufgewachsen. Andere, die mir mit einer gewissen Hormonfülle von der akuten Besonderheit ihrer Gefühlswelt erzählten, konnte ich die Stimmung mit dem Rollstuhl tatsächlich plattfahren. Bei ihm klappte das nicht. Er war ethisch orientiert und moralisch gefestigt – wäre meine Hoffnung gewesen. Tatsächlich war er abgehärtet. Was ich ein mahnendes Wort nenne, ist für ihn lästiges, gleichsam gewohntes Waterboarding.

„Mutter, du hast mich großgezogen“.

„Ich hab’s versucht.“

„Ja, ich liebe sie und wir wollen heiraten. Und überhaupt, es ist doch viel praktischer. Die Fernbeziehung, die Visaanträge. Und immer muss sie zurück nach Minsk, bevor sie wieder einreisen darf, um insgesamt länger zu bleiben. Außerdem machen die weißrussischen Behörden bald nicht mehr mit. Es wird schwieriger für sie.“

›Sagt sie? Die junge, schlanke Juristin, die in ganz Europa war und unsere Ausländerbeauftragten nicht wissen, was sie tun sollen? Den Verfassungsschutz anrufen oder die Scheuklappen für die Liebe aufsetzten?‹, dachte ich und verkniff selbst meinen Gedanken weitere Auswüchse. Vorerst. „Wann wollt ihr denn heiraten? Du hast sie erst vor zwei Wochen zum Flughafen gebracht und so häufig habt ihr euch nun wirklich nicht gesehen.“

„Ich habe sie noch nicht gefragt, es aber angedeutet.“

„Wie romantisch.“

„Ich werde um ihre Hand anhalten, mit Ring und allem Drum und Dran, wenn sie wieder zurück ist. Wir fahren nach Italien, wir drei.“

Der gefühlte Klang von Hochzeitsglocken wurde schlagartig von einer tinnitusähnlichen Alarmsirene ersetzt. „Zusammen? Bist du des Wahnsinns? Da fahrt schön alleine hin.“

„Nein, das wird toll. Dann könnt ihr euch gleich richtig kennenlernen. Schließlich werdet ihr eine Familie.“

Ich kann nicht behaupten, dass das Wort ›Familie‹ in diesem Zusammenhang innige Gefühle auslöste. Es roch nach einer Falle. Stress war vorprogrammiert. Auf die Reise hatte ich mich zuvor gefreut, weil ich Italien liebe, selbst wenn mir lange Autofahrten und sein Hang zum Streckemachen ein Gräuel sind. Wichtiger in der neuen Situation aber war, dass mein Sohn selbst, vielleicht auch einmal ohne rosarote Brille, die Gelegenheit bekäme, mit seiner blondierten Angebeteten mehr als nur ein paar Tage und Nächte zu verbringen.

„Was hast du dir vorgestellt, wann ihr heiraten wollt?“

„Keine Ahnung. So schnell wie möglich. Vielleicht im September.“

Alles sprach dafür, dass sie wirklich jede Sekunde bräuchten, sich kennenzulernen. Ich mag spießig sein, aber seit der Moderne, ohne elterliche Eheanbahnung, ist es durchaus üblich und praktisch, dass, bevor man heiratet, die Parteien einige Zeit zusammenleben. Wie soll man von guten und von schlechten Tagen sprechen, wenn es immer nur um Bündel von Stunden geht, die man miteinander im Sonnenschein oder im Bett verbringt.

Einige Tage versuchte ich ihm den Plan mit der gemeinsamen Reise unter meiner Teilnahme und Aufsicht auszureden. Es war nichts zu machen. Sein zumindest theoretisches Familienmodell war unzerstörbar. Die gut gemeinten Warnungen zerplatzen wie flugfähige Insekten auf der Windschutzscheibe bei zweihundert Sachen. Es kam schlimmer. Die Planung für die Reise stand. Es gab keine, außer dass wir vier Tage vor dem Meeting losfahren würden und zwei Tage nach dem Meeting ihr Flieger sie vom Franz-Josef-Strauß-Flughafen, München, zurück nach Minsk bringen würde. Also erwartete ich, dass wir Katja auf der Fahrt gen Süden auch in München auflesen würden – oder aber sie in Hamburg landen würde, eine Weile bliebe und wir dann gemeinsam losführen. Auch das entsprach wieder nicht ansatzweise der gelebten Realität.

„Mutter, wir müssen nach Minsk.“

„Wieso? Was ist passiert? Geht es Katja gut?“

„Alles bestens. Sie möchte uns ihre Heimat zeigen, und meine zukünftigen Schwiegereltern wollen uns kennenlernen.“

„Was habe ich damit zu tun? Das werden deine Schwiegereltern, und Minsk wird vielleicht die Heimat deiner zukünftigen Kinder sein, wenn deine spätere Ex-Frau dich verlassen sollte.“

Gut, das war nicht besonders einfühlsam. Davon, dass es mit Etikette oder gar überschäumender Begeisterung getragen war, kann ich nicht behaupten. Aber es ist doch wahr: Die beiden kannten sich kaum. Ein ständiges: ›Schatz hier‹, ›Schatz da‹, dass sich in mir der Zweifel regte, ob es Selbstverständnis, Überschwang oder eine gebetsmühlenartige Wiederholung war, um sich selbst ihre Beziehung einzureden und vorzuführen. Mein Sohn blieb unbeirrt.

„Nein, sie haben ausdrücklich auch nach dir gefragt. Sie wollen dich kennenlernen und dir Mink zeigen.“

›Verdammt‹, dachte ich. ›Ich habe nicht einmal einen alten Hund oder eine kranke Mutter, um die ich mich kümmern müsste, die ich als Ausrede verwenden könnte.‹

„Also, wie ist deine Planung?“ Ich befürchtete – noch gar nichts. Für den Moment war ich bedient und dachte, es könne nicht schlimmer kommen.

„Wir düsen eine Woche vor der Italienreise zwei Tage nach Minsk, gehen dort in ein super Hotel, sehen uns die Stadt an, lernen die Familie kennen und kommen dann mit Katja hierher und ab geht‘s in den Urlaub.“

Er hatte sich wirklich Gedanken gemacht. Es beeindruckte mich, dass die Liebe ihn dazu brachte, seine Flugangst zu überwinden. Auf den heldenhaften Schwingen der Unsterblichkeit würde er zu seiner Angebeteten flattern, sorry, heroisch reisen, um sie hinter dem Eisenvorhang aufzugreifen und in die Freiheit zu geleiten. Irgendwie schon wieder rührend und der Stoff für eine nicht ganz große, aber schmalzig-romantische Geschichte. ›Popcorn und Taschentücher bereithalten.‹

„Du fliegst? Meine Hochachtung. Das muss Liebe sein.“

„Es ist Liebe“, bestätigte er. „Aber natürlich fliegen wir nicht. Wir nehmen den Zug.“

Rumms. Die Sonne der Wahrheit ging auf und versengte nicht ihm die Flügel. Er hatte keine. Nicht, dass dadurch der Tag schöner würde. Das Licht sorgte für eine bessere Sicht der Dinge. Die Konturen wurden schärfer, und die Wassertröpfchen in der Luft, die ein klares Bild verhinderten, verdampften wie all meine Illusionen.

„Was? Zug?“ Ich hatte keinen Schlaganfall, aber die Fähigkeit verloren, im ganzen Satz zu sprechen. Davon begleitet, das Gefühl einer halbseitigen Lähmung und einer undeutlichen Aussprache.

„Das wird super. Wir fahren mit der Regionalbahn nach Hamburg. Von dort mit dem ICE zum Berliner Hauptbahnhof und dann ›Schwupps‹ mit dem Nachtzug direkt nach Minsk. Zurück umgekehrt.“

„Nachtzug? Ohne mich. Wie lange dauert die gesamte Fahrt?“

„Genau. Er geht zweimal die Woche ab. 23 Stunden, plus umsteigen. Der Nachtzug fährt natürlich durch. Nur ein Spurwechsel an der polnisch-weißrussischen Grenze. Wir bleiben im Zug.“

Ich hatte keine Ahnung, was ein Spurwechsel ist. Für mich war es vorerst gleichbedeutend mit einem Gleiswechsel, also quasi über eine Weiche fahren, um auf ein anderes Gleis zu wechseln. Weit gefehlt. Den Unterschied würde ich aus erhaben angehobener Position lernen.

„Nochmal zum Nachtzug. Was ist es für einer. Hocken wir die ganze Nacht im Großraum?“

„Blödsinn. Das ist ein richtiger Schlafwagenzug mit Einzelabteilen. Wir nehmen uns ein eigenes Abteil. Der Zug hat ausgedehnte Sanitärbereiche. Wir gehen abends ins Bordrestaurant, essen dort, und wenn wir nicht müde sind, trinken wir etwas. Am nächsten Morgen frühstücken und wir steigen erfrischt und ausgeruht in Minsk aus.“

Das Gespräch ging etwas länger, denn ich sah immer noch nicht ein, was ich in der ganzen Angelegenheit verbrochen hatte, außer vor Jahrzehnten ein Kind zur Welt zu bringen, das mittlerweile volljährig war und erwachsen hätte sein sollen. Die Chancen hatte er. Die Ausbildung auch. An sozialem Umgang und Gepflogenheiten mangelte es ihm genauso wenig. Trotzdem: Irgendwas ging schief.

Das Thema, seine Flugangst mit in Summe keinesfalls kostengünstigeren, insgesamt über sechsundzwanzig Stunden An- und Abreise zu kompensieren, verstand die liebende Mutter. Als genötigte Begleitperson lag die Gemütslage anders. Es schien alternativlos zu sein. Sicher gab es eine praktische Alternative, die mir auch im Zuge meines sinnlosen Kampfes vorgeschlagen hatte:

„Wir können mit dem Auto fahren.“

Den Trick hatte er von seinem Vater. Einfach einen bescheidenen Vorschlag ins bessere Licht rücken, indem man eine noch bescheuertere Lösung anbietet. Bei mir funktioniert es immer. Die Vorstellung, dass mein Sohn uns nächtens durch unbekannte Gebiete östlich der Elbe kutschierte, rief bei mir Ängste hervor. Ich hatte alles im Kopf: Unfall, Autodiebstahl, Bluttransfusion. Wir würden uns jedenfalls auf des Messers Schneide eines europäischen Autoversicherungsschutzes bewegen.

Mir graute vor der diffus gelblichen Beleuchtung der Straßen, wenn diese überhaupt angeschaltet oder vorhanden wäre. Als besorgte Mutter, in Unkenntnis der Sprachen und vom totalitären System umgeben, würde ich versuchen, sein Leben zu retten. Anders abweisend wäre die Rückfahrt im Auto mit meiner zukünftigen Schwiegertochter. Ein osteuropäischer Vorgeschmack auf unsere Italienreise. Ich hätte zumindest den Italientrip ganz bestimmt absagen sollen.

In Nachtzügen zu fahren war nichts Neues. Zweimal sinnvollerweise, runter bis nach Lörrach, um dann mit dem Auto den Familienurlaub in den Süden anzutreten. Autoreisezüge waren damals üblicher als heute. Wir hatten auch andere Varianten im Repertoire, die mehr im Trend lagen. Die Autobahn nachts zu befahren, weil sie freier ist, mag seinen Reiz haben. Ein Ehemann mit angestrengten Nerven und aufgerissenen Augen am nächsten Morgen, hilfsweise stolz darauf, wie viel Strecke er abgerissen hatte, war nicht die ideale Lösung. Ich bevorzugte, Reiseproviant vorzubereiten. Dann ein gemächliches Gondeln, um dort anzuhalten, wo es uns gefiel und Pausen einzulegen. Das Kind konnte rumlaufen, und der Fahrer sich erfrischen, entspannen und die Beine vertreten. Einmal sind wir von Barcelona mit Tag- und Nachtzügen bis nach Hamburg gefahren. Ich meine, das waren auch etwa vierundzwanzig Stunden; über Genf. Es ging nicht anders. Als wir nach unserem Ibiza-Urlaub auf dem Flughafen Barcelona landeten, gab es einen Pilotenstreik. Damals war es fummelig, die richtigen Zugverbindungen zu finden, um nicht noch länger dort auf dem Flughafen festzusitzen. Aber verdammt, ich war jung und mein neunjähriger Sohn hatte sich schon auf dem Airport bestens amüsiert, unabhängig von den gesprochenen Sprachen. Zumeist redete auch er. Im Zug hatte er Freude daran, Zuckerpäckchen zu sammeln, bis er alle Tierkreiszeichen zusammen hatte. Auch wir hatten unseren Spaß und gute Unterhaltung in einem Sechserabteil mit anderen Urlaubern, deren Flüge abgesagt waren.

Der Ibiza-Urlaub war auch derjenige, bei dem meinem Sohn zum ersten Mal mulmig im Flugzeug wurde. Nun es war ausgerechnet auch unser erster Flug. „Kapitän Juan begrüßt sie an Bord.“ Bei allen Fluggästen schmerzten die Ohren und der Druckausgleich funktionierte nicht. Juan benötigte zwei Anflüge und hatte drei Hüpfer beim Aufsetzen für die Landung. Wir hatten zwar noch andere gemeinsame Flüge, bei denen mein Sohn aber nicht mehr warm mit dem Verkehrsmittel wurde. Bei der Landung in Neapel flogen wir durch die schwarzen Rauchschwaden von brennenden Autoreifen auf einem Müllberg. Die anschließende Fahrt in dem rundum verglasten Schneewittchensarg, dem Tragflächenboot nach Ischia sagte ihm ebenso wenig zu. Er ist danach noch viermal geflogen, einmal davon auf Geschäftsreise. Einen einzigen Flug hatte er genossen. Es war die Strecke von Korfu über München nach Hamburg, und es lag nicht an der Route.

Der Flughafen Korfu ist etwas abenteuerlich. Die Start- und Landebahn endet im Meer, und auf der Gegenseite wird es schnell bergig. Er ist sehr klein und macht einen improvisierten Eindruck. Eine Besonderheit ist, dass die Hauptstraße gesperrt wird, weil eine Tragfläche nebst Triebwerk über den Zaun in den Luftraum über der Straße ragen, damit der Pilot die ganze Länge der Startbahn ausschöpfen kann, um nicht bäuchlings ins Wasser zu fahren.

Es war eine läppische Boeing 737, und wir erwarteten nicht viel vom Start. Weit gefehlt. Der Pilot, namens Richthofen begrüßte uns an Bord und mein Sohn, der behauptete, wenn er selber flöge, hätte er keine Angst, witterte beim Namen des Piloten Professionalität und Abenteuer. Es ging schon gut los. Die Triebwerke liefen hoch – und höher. Das Flugzeug bewegte sich nicht. Der Pilot stand auf der Bremse, während die rauschenden Motoren an bereits schwingenden Flügeln ihr Bestes gaben. Der Blick aus dem Fenster signalisierte, dass auch die Menschen, die aus ihren Fahrzeugen auf der Straße neben mir ausgestiegen waren und der Verkehrspolizist interessiert an unserem Startversuch waren. Dann ging der Pilot von der Bremse und der Vogel schoss mit irrer Gewalt nach vorne. Dennoch spritzte etwas Wasser auf, als das Flugzeug abhob. Wir saßen hinten. Der Flug verlief normal. Zunächst wenigstens, über die Adria war es ruhig. Ich konnte Venedig gut erkennen. Es wurden bei mir sowohl Erinnerung wach, als auch erneut der Beschluss gefasst, nochmal dorthin zu reisen.

Dann kam die Durchsage vom Kapitän mit der Frage, ob sich wegen eines Notfalls an Bord einen Arzt unter den Passagieren befand. Dem war so und fünf Minuten später kam eine erneute Durchsage.

„Liebe Fluggäste hier spricht ihr Kapitän Richthofen. Wir haben einen medizinischen Notfall an Bord und werden in München zwischenlanden. Wir fliegen direkt. Der gesamte Luftraum über den Alpen ist für uns freigehalten.“

Die letzte Bemerkung hätte er sich eigentlich sparen können, doch erschien es, als sei das für ihn die Chance und Legitimation gewesen, aus dem fliegenden Bus einen Kampfjet zu machen. Von Reisegeschwindigkeit keine Spur. Er gab Vollgas und flog teilweise so tief, dass die Berge der Alpen zum Greifen nahe waren. Nicht unter mir, sondern neben mir. Es grenzte an Konturenflug.

Mein ängstlicher Sohn war begeistert. „Der kann fliegen“, sagte er anerkennend über den Piloten. Junior hat eine Eigenart, Dinge steigerungsfähig auszuschmücken: „Wenn jetzt was daneben geht, wird das kein einfaches Runterplumpsen, dann knallt es richtig.“ Bei meinem Filius war es nicht das grundsätzliche Risiko des Absturzes, sondern im Fallen das Gefühl verarbeiten zu müssen, den falschen Flug genommen zu haben.

Wir landeten in München, das Flugzeug preschte an die Stelle, wo schon Rettungswagen standen. Der Patient wurde weiter versorgt und abtransportiert. Die Tür ging zu. „Wir haben Starterlaubnis.“ Der Pilot fuhr Richtung Startbahn. Auf dem Weg dahin beschleunigte er in der Kurve und ohne vorher anzuhalten, hob er ab. Etwa auf Höhe Kassel kam eine erneute Durchsage: „Sehr geehrte Passagiere, hier spricht Ihr Kapitän. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir ohne Zeitverlust, plangemäß in Hamburg landen werden.“

 

Mein Sohn zog sein letztes Register: „Nicht mit dem Auto nach Mink? Kein Problem. Was hältst du davon, wenn du fliegst, also von Hamburg nach Frankfurt oder München oder Wien und dann nach Minsk, und ich fahre alleine mit dem Zug. Wir treffen uns dann da. Du kannst auch nachkommen.“

Auch die argumentative Drehung: „Mutti mit der Extrawurst“, hatte er von seinem Vater.

Das Thema war damit erledigt. Eines frühen Morgens fuhren wir in Lüneburg mit dem Zug so rechtzeitig Richtung Hamburg los, um garantiert den abendlichen Zug, in Berlin, nicht zu verpassen. Unsere nur für diesen Zeitraum ausgestellten Visa nebst der Zugbuchung sollten nicht gefährdet werden.

Der Zug von Berlin nach Minsk schien ein Renner zu sein. Nicht in seiner Geschwindigkeit, sondern in seiner Beliebtheit. Es war gar nicht so leicht, noch Plätze zu ergattern. Ich war vorbereitet. Auf Verpflegung, wie sonst üblich, hatte ich auf Geheiß meines Sohnes verzichtet und auf seine weiterhin ausgedehnten Ausschmückungen und Huldigungen des Bordrestaurants vertraut. Ich kann es nicht beschwören, aber es wäre möglich, dass er seine Sprache und Schlüsselworte dahingehend gewählt hatte, weil ich in etlichen Jahren, mehrfach erwähnt hatte, dass ich gerne einmal im Orientexpress reisen würde.

Berliner Hauptbahnhof. Wir kamen zum angeblich richtigen Gleis und da stand auch schon ein Zug. Er schien eine Engelsgeduld zu haben, weil er sich nicht vom Acker machte. Eigentlich sollte unser Zug bereits da sein. An seiner Stelle stand noch immer die Rostlaube nach Nischni Nowgorod. Der Zug hatte etwas sehr Praktisches in seinem Ausdruck. Allerdings sah er so spartanisch aus, dass es wohl nicht gestattet gewesen wäre, wenn die Gäste auch noch ihre Koffer, Küchengeräte oder Autoreifen auf den Dächern der Waggons festschnallen würden.

Die Atmosphäre war wie auf einem Campingplatz. Etliche der Fahrgäste hatten es sich bereits bequem gemacht. Einige liefen in Badelatschen und gut eingetragenen Bademänteln auf dem Bahnsteig herum.

„Was ist denn hier los?“, entwich es mir leise in einem Moment des bewundernden Entsetzens über eine Art von Zeitreise, der ich mitten in Berlin beiwohnen durfte. „Da fehlen ja noch Hühner und Gänse. Unser Zug wird hoffentlich anders sein.“

„Das ist unser Zug. Wir steigen in Minsk aus. Der gondelt weiter. Mal sehen, wo unser Wagen ist“, sagte mein Sohn.

„Ich sehe keinen Speisewagen.“

„Machen wir alles, wenn wir unseren Wagen und unser Abteil gefunden haben.“

Das Abteil fanden wir, richteten uns irgendwie ein und alsbald fuhr der Zug auch schon an. Dann machte sich mein Sohn auf dem Weg, das Bordrestaurant zu suchen. Es dauerte nicht lange und er bestätigte meine Vorahnung. „Es gibt hier keins. Wir kommen nicht einmal von Wagen zu Wagen. Die zuständige Dame hier hat ein paar Sandwiches und ein gewaltiger Samowar steht neben der Toilette.“

Ich war urlaubsreif und wollte nach Hause. Das hatte wenig mit dem fehlenden Speisewagen zu tun. Ich tat die ganze Zeit schon etwas, gegen das sich alles in mir sträubte und entschied, an der nächsten Station, Frankfurt an der Oder, auszusteigen.

Auf dem Höhepunkt meiner Gegenwehr rief Katja erwartungsfroh an, um sich zu erkundigen, ob wir im Zug säßen. Mein Sohn bestätigte und sagte ihr, dass ich umkehren würde. Sie begann zu weinen und die Würfel waren gefallen. ›Minsk und Lukaschenko, Ihr könnt mich, aber ich komme und bringe einen Idioten zu der Frau, die ihn zu lieben scheint.‹

„Gib mir das Telefon!“ „Katja, wir kommen.“

Nachdem das endgültig geregelt war, behielt ich den Kommandoton. „Wie lange halten wir in Frankfurt?“

Er sah auf den Fahrplan: „Zehn Minuten. Da spring ich kurz raus und kaufe ein.“

Gesagt, getan. Einige Kilometer später stieg er aus – und ich mit ihm. Er flitzte in die Bahnhofshalle und ich saß am Bahnsteig auf den gepackten Koffern. Ich stand nicht daneben. Ich wartete nicht im Zug. Wie ein Huhn saß sich auf der Bagage. Die in alle Richtungen große Zugbegleiterin rief mich zurück in den Wagen, doch ich rührte mich nicht. Sie versuchte, mit mir in ihrer Landessprache zu diskutieren, doch ich antwortete nicht und lächelte nicht einmal. Meine Haltung hatte nur teilweise eine Eleganz, die vortrefflich zu dem edelsten französischen Gepäck unter mir passte. Dessen Hersteller, bezeichnet sich gern als Handwerksbetrieb, obwohl er Teil eines Luxusimperiums ist. Andererseits war ich das besagte Huhn zwischen Schockstarre und Angriffsbereitschaft. Wenn es mein Sohn nicht rechtzeitig schaffen würde, würde ich am Bahnsteig sitzen und garantiert nicht allein zu der Frau fahren, die selbst er nicht richtig kennen konnte. Seit der Pubertät war er selten pünktlich. Warum sollte das jetzt anders sein? Den Zug fand ich sowieso furchtbar und den Anlass der Reise höchst fragwürdig. Die Zugbegleiterinnen der einzelnen Wagen machten sich nach einem abschließenden Blick auf das Prunkstück frühsteinzeitlichen Fahrzeugbaus, bereit, wieder einzusteigen.

Da kam mein Goldjunge angelaufen. Beide Hände voll mit diversen kleinen, dünnwandigen Plastiktüten, als hätte er einen Dönerladen geplündert. Mit dem Gesichtsausdruck des Selbstverständnisses eines Siegers grinste das Honigkuchenpferd, bat mich, aufzustehen, gab mir die Tüten und schmiss die Koffer wieder in den Zug. Die Falle war endgültig zugeschnappt.

Wir hatten einen extrem warmen Tag im Juli erwischt. Draußen. Im Zug war es unerträglich heißer. Mein Sohn hat an alles gedacht. Sandwiches, Cola, Limonade und Wasser in Dosen, und sogar Wein hatte er dabei. Becher und Süßigkeiten rundeten das Programm ab. Die gleichen Emotionen wie beim Salonwagen im Orientexpress waren es sicher nicht, die bei mir hervorgerufen wurden. Wir würden weder verhungern noch verdursten, auch wenn der Zug den Geist aufgäbe. Die Klimatisierung konnte nicht ausfallen. Es gab keine. Die Hitze sprach dafür, zumindest die gebutterten Nahrungsmittel zügig zu essen. Cola-Dosen mit vierunddreißig Grad Celsius kannte ich aus dem Jugoslawienurlaub. Mein Sohn – Ingenieur seines Zeichens – machte eine, seiner Auffassung nach großartige Entdeckung in dem Abteil, in dem wir saßen, aßen und schlafen würden.

„Sieh mal, hier ist ein Kühlschrank unter dem Sitz. Die Sitzfläche ist der Deckel. Unsere Probleme sind gelöst.“

Gelöst? Unsere Probleme bekamen einen neuen Teilnehmer. Zumindest die Annahme, dass es sich um einen Deckel, eine Abdeckung handelte, entspracht der Realität. Was abgedeckt wurde, stand auf einem anderen Blatt. – Ein generelles Missverständnis der folgenden Wochen.

Es geht weiter mit Familie Baller
Romance at th Sea: Strandstraße

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert