Das Licht von Dragomar 1
Kapitel 3
ERSTER TEIL: ZUHAUSE
EIN FÜRSTLICHER TAG
Ekky war auf dem Weg zu seiner Freundin Fluffy, die am anderen Ende der Kolonie wohnte. Fluffy war nicht ihr richtiger Name. Man hat ihn ihr gegeben, weil beim ersten Wechsel ihres Gefieders etwas schief gelaufen ist. An Kopf und Hals lagen die Federn nicht wie bei anderen Pinguinen dicht und eng auf der Haut, sondern einige standen wild ab, gespreizt und durcheinander. Diese wilden Federn waren rosa. Fluffy war etwas älter als Ekky und wurde früher geweckt, als ihre anderen Freundinnen und Freunde. Ekky sah sie, ging leicht in die Knie, streckte eine Flosse nach vorne und eine nach hinten. Er bewegte sich kurz mit dem Oberkörper nach hinten, um dann schnell wie ein Pfeil zu laufen. Die letzten Meter rutschte er auf seinen großen Füßen auf dem Eis, wobei er sich mehrfach drehte. Abschließend schlitterte er rückwärts und bremste, indem er seine Krallen stärker auf das Eis drückte.
»Hey Fluffy! Was geht ab? Machen wir Party?«
»Wie bitte, Ekky?«
»Äh Was machen wir heute?«
»Guten Morgen erst einmal«, sagte Fluffy und schüttelte den Kopf.
»Was ist das für eine dumme Frage? Wenn die Sonne scheint, gehen wir immer zum Badesee. Warum sollte das sich ausgerechnet heute ändern?«
Ekky liebte es, wenn sie den Kopf schüttelte. Ihre aufgeplusterten Federn schwangen immer mit und waren noch in Bewegung, wenn ihr Schnabel längst wieder ruhig war. Ekky wollte dann nicht einen Moment wegsehen und wartete, bis die letzte Feder von Fluffy aufgehört hatte zu wackeln und auf ihren nächsten Einsatz wartete. Ekky konnte
sich an dem Wippen nicht sattsehen. Genauso liebte er das lebendige Wirbeln in ihren leuchtend grünen Augen.
Gespielt entspannt aber gebannt blickte er sie an, um keine ihrer Regungen zu verpassen. »Also auf gehts! Die anderen holen und ab zum Badesee!«, sagte Ekky, als hätte er jemals irgendetwas zu entscheiden gehabt.
Gilda, Sammy, Rumpel, Maestro und Schaumi waren mittlerweile mit dem Frühstück fertig. Schaumi hieß eigentlich Tom. Sie nannten ihn Schaumi, weil er immer Spucke in den Mundwinkeln hatte, wenn er sich ärgerte. Er ärgerte sich häufig. Gilda war die Jüngste und etwas schüchtern. Im Wasser wurde sie zum Tier. Wenn sie tauchte, schwamm man ihr besser aus dem Weg, sofern man blaue Flecken vermeiden wollte. Sammy und Rumpel waren eineiige Zwillinge. Sie sahen identisch aus, machten alles zusammen und betonten gleichermaßen, dass sie sich gegenseitig nicht ausstehen konnten. Als Küken waren sie dünn und mickrig, jetzt überragten sie schon ihre Eltern. Maestro hieß wirklich Maestro. Der Name hatte sich schon bei seinem Schlüpfen aufgedrängt. Er soll aus dem Ei gestiegen sein, die heruntergefallenen Eischalen-Teile in den Rest vom Ei mit dem Schnabel gelegt haben. Danach soll er sich umgedreht haben um seine Eltern und Verwandtschaft mit einer Dankesrede, im besten Pinguinisch, zu begrüßen.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Badesee. Dort wo Ekky lebte, gab es ein recht großes Wasserbecken im Eis. Größere und vor allem gefährliche Tiere kamen da niemals hin. In diesem Becken, das sie Badesee nannten, konnten die jungen Pinguine nach Lust und Laune schwimmen üben. Der Badesee war nicht weit entfernt − fünfhundert Meter − in Pinguinschritten zehntausend an der Zahl. An einigen Stellen des Weges war das Gelände hügelig und sie rutschten auf dem Bauch hinunter. Die Freunde liefen ungeordnet. Ein kleiner, wilder Haufen von Pinguinen, die sich auf das Wasser freuten und denen alles andere egal war. An einer Stelle veranstalteten sie immer ein Wettrutschen, weil das letzte Stück zum Badesee Gefälle hatte, das direkt bis zum See führte und eine Sprungschanze hatte.
»Vorsicht!«, rief eine strenge Stimme. »Hier wird nicht gerannt und gerutscht!« Die Stimme war von einem Kaiserpinguin. Ekky erkannte das sofort, auch wenn er ihn nicht gleich bemerkt hatte. Kaiserpinguines prachen mit anderen immer leicht durch ihre Nase im Schnabel. Sie versuchten, dadurch einen eleganten und würdevollen Eindruck zu hinterlassen. Untereinander fluchten und tratschten sie mit weit aufgerissenem Schnabel, ohne jede Etikette.
Die Freunde blieben stehen. Hinter einem Felsen, der zum Teil von Eis bedeckt war, kamen die Kaiserpinguine mit hoch erhobenen Schnabel watschelnd, im Gleichschritt hervor. Alle in einer Reihe − einer nach dem anderen. Die Reihe nahm scheinbar kein Ende. Es kam immer noch einer. Beim Watscheln schnatterten sie unentwegt. Sie tratschten über dieses und jenes. Es gab keinen Moment, kein Wesen oder Ereignis, das ihnen begegnete oder geschah, ohne, dass sie darüber sprachen oder stritten. Trotz der Einigkeit, die sie beim Marschieren in der Reihe hatten, waren ihre Ansichten und Meinungen völlig verschieden. Als einzelnes Bild war das unspektakulär. Sie aber in Bewegung zu sehen und sie dabei auch noch zu hören, war abenteuerlich.
»Nächstes Mal bin ich vorne«, nörgelte der eine.
»Ich sag es immer und ich hatte wieder Recht. Wir hätten lieber auf dem Bauch rutschen sollen«, schwätzte ein anderer, der überhaupt nichts vom Marschieren hielt.
»Ich glaube, wir laufen in die falsche Richtung!«
»Die anderen sind einen besseren Weg gegangen!«
»Wo wir sind, ist vorne! Es ist egal, wo und wohin die anderen laufen.«
»Ist es noch weit?«
»Wir sind doch noch nicht lange unterwegs.«
»Ich habe Hunger.«
»Mir tun die Füße weh.«
»Der Wind bringt meine Federfrisur durcheinander.«
»Bleiben wir über Nacht weg?«
»Sonderkommando HALT!«, rief der Vorwatschler, der Ekky und seine Freunde ermahnt hatte. Er drehte sich um und marschierte zurück. Die halbe Strecke schritt er zackig an seiner Truppe vorbei, bis er in der Mitte der aufgereihten Pinguine war. Er nahm zehn Schritte Abstand und rief knapp, aber bestimmt: »Aufstellung!«
Nun wurde es hektisch. Nach Dienstvorschrift hätten die Kaiserpinguine bereits in der vorgeschriebenen Formation stehen müssen. Da aber nicht jeder mit jedem gleichermaßen gut zurechtkam, wurden
häufiger Positionen getauscht. Es war unmöglich, das leise und unauffällig zu korrigieren. Sie liefen kreuz und quer. Dann wurde es ruhig und alle streckten eine Flosse zur Seite, um den Abstand zum Nebenpinguin festzulegen. Dieser tippelte seitwärts, bis er die Flosse gerade noch berührte.
»Flossen STILL!« – Mit einem Ruck wurde es still.
»Die Schnäbel zu MIR!« – Ein Pinguin hustete.
»Abteilung lockern!«
Der ein oder andere Kaiserpinguin hatte immer noch nicht verstanden, warum erst so ein Aufwand betrieben wurde, um ordentlich zu stehen, um sich dann doch alle wieder, nach einem Kommando, irgendwie hinzustellen.
»Männer!«, rief der Oberpinguin, dessen Gruppe ausschließlich aus männlichen Pinguinen bestand. »Männer! Wir haben eine Aufgabe, die wir mit vollem Einsatz erfüllen werden. Es ist ein Sonderauftrag, der dabei hilft, unsere Heimat vor dem Fürsten des Feuers zu schützen. Es ist ein Geheimauftrag, der so gefährlich ist, dass nicht einmal ihr erfahren habt, was genau unser Auftrag ist. Ihr könnt euch glücklich schätzen, dass ihr zu den Auserwählten dieser Mission gehört. Nicht alle von uns werden zurückkehren.«
»Waaas?«
»Das hat mir wirklich keiner gesagt.«
»Ich dachte, das sei eine Übung.«
»Was ist Feuer?«
»Ich habe immer noch Hunger.«
»Ruhe im Frack!« Der Kommandant räusperte sich und fuhr fort, indem er sich
zunächst wiederholte. Er verdrehte die Augen, hob seinen Schnabel und spreizte die Flossen.
sagte er mit sich weit öffnenden Schnabel und einer dramatisch betonten, unnatürlich klingenden Stimme.
Unsere Chancen zu überleben,
sind besser, als die derjenigen,
die nicht von mir ausgebildet wurden.
Diejenigen, die hier an meiner Seite,
diese Mission annehmen,
werden eines fernen Tages
noch zurecht stolz sein,
in diesen Tagen
mit mir gekämpft zu haben.
Orlando, Romario, Giottzo, Rudolpho,
Marchello und ihr anderen
werdet an meiner Seite erfolgreich sein.
Wenn ihr dann zurück bei euren Familien seid,
werdet ihr im Angesicht eurer Schmerzen und Narben
mit heldenhaftem Stolz
an diese glorreichen Tage zurückdenken
und diejenigen bemitleiden,
die nicht inmitten dieser Truppe waren.
Jener Truppe von späteren Helden und Märtyrern,
der Gemeinschaft aus Flossen,
die auszog, die Heimat und die Welt
vor dem Untergang zu retten.«
»Das ist ausgezeichnet. Perfekt für den Rückmarsch. Danke«, sagte Antonio begeistert.
»Äh, Antonio?« Marchello hob den Flügel.
»Ja, Marchello,was gibt´s ? Sprich!«
»Wenn die Mission so geheim ist, warum schreist du davon so laut vor soviel Zuhörern?« Er zeigte auf Ekkys Gruppe.
»Das sind Kinder. Die wollen nur spielen und verstehen nicht, worüber wir sprechen«, erwiderte Antonio. Er blickte in die demoralisierte Reihe von Kampfpinguinen, die alles sein wollten, nur keine Kampfpinguine. »Pulkbildung!«
Die Kaiserpinguine stellten sich in einem engen Ring zusammen, vorne über gebeugt, Schulter an Schulter, Kopf an Kopf, Flosse über Flosse. Antonio stand genauso in dem Ring. Er sprach als einziger komplette Sätze und gab alles, um die Stimmung für den gefährlichen Einsatz wieder zu heben. »Hört mal genau zu. Wir sind dem Feind überlegen, weil er nicht weiß, dass wir ihm überlegen sind. Wir sind im Vorteil, weil der Feind nicht weiß, dass wir kommen. Er wird nicht glauben, dass wir ihn angreifen, weil wir das auch gar nicht vorhaben. Wir bespitzeln ihn und kundschaften seine Schwächen aus. Also Männer! Wollen wir unsere Pflicht tun?«
»Jaaah!«, kam gleichzeitig aus allen Schnäbeln.
»Wollen wir gewinnen?«
»Jaahh!«
»Werden wir gewinnen?«
»Jaaah!«
»Kann uns jemand besiegen?«
»Jaaah!«
Die Truppe war so in Stimmung versetzt, dass sie bei allem ›Ja‹ gerufen hätten und blind jedem gefolgt wären.
»Genau deshalb müssen wir diszipliniert sein. Weiter jetzt, ohne zu jammern, in einer Reihe. Es ist genauso, wie zum Fischen zu gehen – nur ohne Fische und dass wir nicht die Jäger sind. Das wird ein Spaziergang.«
Sie machten sich wieder auf den Weg.
Für Marchello war das Thema nicht abschließend geklärt. »Du, Giottzo, was meinte Antonio mit: ›die an meiner Seite sind, Narben, Schmerzen und Mitleid‹?«
»Das ist sein englischer Humor und er liebt das Theater. Er probt das heimlich. Außerdem spricht er uns als Gruppe an, von denen jeder Teil der Gruppe und jeder selbst ein Held sein kann und von anderen Gruppen als Held gefeiert wird.«
»Na dann«, sagte Marchello und trottete weiter.
Ekky und seine Freunde hatten das Schauspiel gesehen und genossen. Die Geschichte mit dem Fürsten des Feuers war spannend. Konnte es sein, dass es ihn wirklich gab? Die Erwachsenen sprachen hinter vorgehaltenen Flossen von ihm. Aber, dass es Kommandotrupps gab, die versuchten, seine Herrschaft zu verhindern, hatte er nicht vermutet.
Möglicherweise hatten die Kaiserpinguine Ekky und seinen Freunden nur eine Möwe aufgebunden. ›Eine Möwe aufbinden‹, so sagten Pinguine, wenn jemand nicht so ganz die Wahrheit erzählte oder etwas übertrieb.
Kaiserpinguine sind immer putzig anzusehen. Je größer die Gruppe war, die sich in Bewegung setzte, desto lustiger sah das Ganze aus. Sie forderten Respekt von den anderen Tieren, schließlich waren sie die größten Pinguine der Welt. Sie marschierten weite Wege über das Eis, um zum großen Wasser zu gelangen. Da fingen sie dann Fische und zeigten Ihren Kindern, wie man schnell schwamm und wie tief sie tauchen konnten. Der lange Marsch hatte noch nicht begonnen und so waren die meisten Kaiserpinguine nicht unten am großen Wasser.
Fürst des Feuers oder nicht. Heute war das Baden angesagt. Zuerst das Wettrutschen zum See. Fluffy war immer als Schnellste am See. Sie hatte das Rennen noch nie gewonnen, weil sie nie direkt in den See rutschte, sondern vorher abbremste, aufstand und sich ein sonniges Plätzchen auf dem Eis suchte. Schaumi war ehrgeizig, aber er hatte eine miserable Rutschtechnik. Ekky war oft Zweiter und Maestro gewann immer. Keiner konnte sich erklären, wie er es hinbekam. Er rutschte auf dem Rücken, mit dem Schnabel voraus, mit lang ausgestrecktem Hals, in vollkommener Ruhe. Man konnte nicht erkennen, dass er steuerte. Beim Eintauchen in den See gab es keine Spritzer.
Der See war wirklich nicht groß. Ekky konnte ihn in zwei Minuten einmal abschwimmen. Bevor Ekky unter Wasser richtig schnell werden konnte, musste er schon wieder abbremsen, weil das Becken einfach zu klein für freies Schwimmen und Tauchen war. Aber irgendwie schien das Schwimmen und Tauchen zum Pinguinsein dazuzugehören. Sie nutzen jeden Tag, an dem es nicht zu sehr schneite und stürmte, um hierher zu kommen. Warmes Wasser stieg in der Mitte auf. Nicht viel, aber doch so viel, dass er niemals zufror.
»Du, Ekky?«, fragte Maestro.
»Ja?«
»Was sind das für Geschichten mit dem Feuerfürsten? Ich habe noch keine gehört, nur immer kurze Andeutungen.«
»Das sind nur Geschichten. Die alten Pinguine langweilen sich genauso wie wir, wenn sie immer das Gleiche tun.«
»Und die Kaiserpinguine?«, »Suchen die nach einem Märchen?«
»Nein, die wollen immer ein wenig wichtiger sein als andere und erzählen sich die Geschichte auf dem Weg zum großen Wasser, wo sie dann ganz normal Fische fangen.«
»Ich will auch ans große Wasser, sagte Maestro.«
»Ich genauso. Ich werde sogar früher da sein, weil ich älter bin«, jubelte Ekky. »Ich werde dir alles erzählen.«
»Ja, ja und dann kommst du zurück, wie die anderen Erwachsenen und sagst kein Wort.«
Nach dem Baden watschelte die kleine Pinguingruppe nach Hause, in die Kolonie, zum Mittagessen. Sie waren erschöpft vom Herumtollen im Wasser und langsamer als auf dem Hinweg. Der Weg kam ihnen endlos vor.
»Nur keine Müdigkeit!«,rief Fluffy. Kein Wunder, sie war nicht ein einziges Mal im Wasser.
Nach dem Essen war alles, wie an jedem Tag. Es schneite ein wenig große, weiße Schneeflocken und einige Möwen ärgerten Baby-Pinguine. Das taten sie, um sie vom Essen abzulenken, um ihnen dann das Futter zu stehlen. Manchmal verliefen sich Babypinguine und riefen dann nach ihren Eltern. Die aber hörten das Rufen der kleinen Pinguine nicht immer.
Ekky war dabei, Baby-Pinguine zu suchen, die sich verlaufen hatten. Er brachte sie zu ihren Eltern zurück. Er war jeden Tag damit beschäftigt. Es gab weder eine Bitte noch einen Grund, außer zu helfen. Er war schon etwas größer und imstande, sich um sie zu kümmern. Ekky ging ein wenig den Berg hinauf, weil er dort welche vermutete. Er hörte das aufgeregte Gekreische einer Möwe und sah sich um. Vor ihm, oben in der Luft, war eine Raubmöwe, die immer kleinere Kreise flog. Raubmöwen waren hier in der Gegend selten anzutreffen. Das Geschrei der Möwe war laut und durchdringend. Grelle Töne, die wie ein quietschendes, helles Lachen klangen und sich wiederholten, ohne dass es erträglicher wurde. Der Vogel, zu dem diese furchtbar aufdringliche Stimme gehörte, sah elegant aus. Er hatte einen langen Schnabel, ein braunes Federkleid und große, angewinkelte Flügel. Möwen konnten endlos im Wind gleiten, ohne mit den Flügeln zu schlagen. Die Möwe, die er sah, flatterte aufgeregt. An der war nichts elegant.
Ein wenig neidisch war Ekky schon auf die Fähigkeit zu fliegen. Wer fliegen konnte, sah die Landschaft von oben. Wer fliegen konnte, war
schnell dort, wo er hinwollte. Ekky wollte richtig fliegen − nicht flattern, wie die Raubmöwe vor ihm. Er hatte häufig erlebt, dass Raubmöwen nicht zum Spaß an einem Ort in der Luft flatterten, und lief zu dem Platz, über dem die Möwe kreischte und flatterte.
Da saß ein Baby-Pinguin im Schnee, im Schatten eines Felsens. Der Kleine sah erschöpft aus. Als er Ekky erkannte, wimmerte er: »Ich habe mich verlaufen und die böse Möwe ärgert mich die ganze Zeit!«
»Das kriegen wir hin«, sagte Ekky, lief auf die Möwe zu, beugte sich vor, hob Schnee auf, holte weit aus, während er sich zurücklehnte und verpasste ihr eine Ladung mitten ins Gesicht. Die Wurftechnik hatte er von Tante Maja gelernt.
Die Möwe krächzte: »Waf habf ich denn gemafft?«, lispelte sie mit einem von Schnee verstopften Schnabel.
»Das weißt du genau. Also los, verschwinde hier!«
»Wie unhöpflich!«, kreischte die Möwe »Wapf pfällt dir ein? Du glaupft pfohl, du bipft epfwas bepferers alpf wir, nur pfeil du gröpfer und kräpftiger bipfts.«
So hatte das Ekky noch nie gesehen. Größer und kräftiger. Der Gedanke, nicht der kleine Ekky zu sein, gefiel ihm.
»Wer pfuletzt lacht!« sagte die Möwe bedeutungsvoll, aber mit der lächerlichen Stimme klang es weniger wichtig. Sie probierte jetzt einen bedrohlichen Gesichtsausdruck, bei der ihre Augäpfel vor Anstrengung herausquollen und die Krallen zu kleinen verkrampften Ballen wurden.
»Bald kommpft der Pfürpft des Pfeuers und ihr pferdet alle gegepfen.«
»Wir werden ge… was?«, fragte Ekky.
Gegepfen, mit Haut und Pfedern rief sie und flog davon.
»Gib deinem Fürsten das!«, rief Ekky und schmetterte einen Schneeball der wegfliegenden Möwe aufs Hinterteil.
»Sag ihm, ich bin Ekky und er kann jederzeit vorbeikommen. Ich lösch ihm sein Feuer …, äh Pfeuer. Mit Pfreude. Jederpfeit!« Ekky war nicht nett, aber es machte Spaß. Dennoch war er nachdenklich. Schon wieder dieser Fürst des Feuers. Die einen hatten Angst, die anderen waren in Kommandosache unterwegs. Diese dämliche Möwe schien sich auf ihn zu freuen. Entweder war das ein altes Märchen für Erwachsene oder es war etwas dran, an der Geschichte. Ekky hatte schon viele Geschichten gehört. Die ganz alten Geschichten waren über die Jahre durch das Weitererzählen so geschliffen, dass sie aus einem wahren
Kern bestanden und sich drum herum die Ausschmückungen ergaben, die der Fantasie des Zuhörers beim Weitererzählen entsprang. Durchgesetzt hatten sich die Geschichten, die entweder am häufigsten erzählt wurden oder die insgesamt stimmig waren. Meisten traf beides zu. Jüngere Geschichten waren entweder flache Lügen oder kurze Eindrücke, die auf Erlebnissen beruhten. Wie sollte Ekky die Geschichte mit dem Fürsten des Feuers bewerten? Sie war zweifelsohne alt, aber sie war nicht eindeutig. Eigentlich war es gar keine Geschichte, sondern Erzählungen über eine unbekannte Bedrohung. Oder wussten die Kaiserpinguine und die Möwe mehr?
»Ekky?«
»Ja?«
»Was ist ein Pfürst des Pfeuers?«, fragte der Babypinguin.
»Es heißt Fürst des Feuers und es ist ein altes Märchen.«
Ekky brachte den kleinen Pinguin nach Hause. Es war nicht weit. Sie hatten nicht einmal bemerkt, dass er weg war. Die Eltern des kleinen Pinguins waren noch nicht vom Fischfang zurückgekommen, wie die meisten Eltern. Omas, Opas, Onkel, Tanten und Geschwister waren da. Der Kleine lief zu ihnen, um sich warm einzukuscheln. Alle waren hocherfreut und dankbar, dass Ekky den Kleinen gefunden hatte und nach Hause brachte. Ekky erhielt viele Komplimente, auch von den Nachbarn, die direkt daneben, auf ihren Grundstücken standen. Ekky war ein Held und ihm wurde eine prächtige Zukunft als edelmütiger Vertreter seiner Art vorausgesagt bis … ja, bis der kleine Pinguin den Schnabel aufmachte. Im Weggehen hörte Ekky den Babypinguin rufen:
»Bald kompft der Fürst des Feuers. Bald kompft der Fürst des Feuers. Was macht ein Feuerfürst? Spielen wir das?«
Ekky drehte sich um und blickte auf lauter eng zusammengezogenen Augenpaare. Es waren die vorwurfsvollen Augen von acht alten Pinguinen, die ihn ansahen, als hätte er einen schmutzigen Witz erzählt oder sonst etwas Unanständiges gemacht oder gesagt.
»Ich habe nicht damit angefangen. Das sind eure Geschichten«, rief er und ging betont schlendernd weiter; etwas schneller als zuvor.
Er verstand die Erwachsenen nicht. Sie versuchten, die Kinder zu schützen, indem sie ihnen nichts von Gefahren und Bedrohungen erzählten. Die Kinder schnappten Wortfetzen auf und bastelten sich ihre eigenen Geschichten zusammen. Wenn sie dann mit ihren Eltern
darüber reden wollten und sahen nur betroffene, schweigsame Schnäbel, waren die Ängste geschlüpft.
Ekky kannte in der näheren Umgebung seines Zuhauses jede Ecke und jedes Versteck. Er war mittlerweile groß und stark genug, um die Möwen zu vertreiben. Als er ein kleiner Pinguin war, haben sie ihn auch geärgert und drangsaliert. Vielleicht konnte er sie deswegen nicht ausstehen. An diesem Tag gab es für ihn nicht viel zu tun. Er stieg den Berg ein Stückchen höher hinauf, um nachzusehen, ob seine Freunde schon wach waren. Die schliefen wieder tief und fest, stehend und eng aneinandergedrückt. Sogar Fluffy. Nur der dicke Bozo lag flach auf dem Bauch und ließ sich die Sonne, bei leichtem Schneefall aufs Gefieder scheinen. Wenn Bozo wach war und nicht am Essen, kam er häufig hinterher, wenn sich jemand verplapperte und ihm sagte, wo sie waren. So auch hier.