Das Licht von Dragomar 1
Kapitel 4

Das Licht von Dreagomar Kapitel 5

ERSTER TEIL: ZUHAUSE

 

 

DER BERG, DAS LICHT UND DIE MAGIE

Ekky sah sich um, ob es etwas Spannendes zu entdecken gab. In nicht allzu großen Entfernung erkannte er eine reizvolle Stelle, oben am Berg.

›Da ist ein Stück, auf dem es flach ist‹, dachte er.

›Von da sieht man viel mehr, als von hier. Vielleicht sehe ich von dort aus das große Wasser.‹

Er lief los, hinauf auf den Berg. Der Berg war nicht hoch und es schien nicht weit zu sein. Er wanderte über die Eisfelder, die zwischen den herausstehenden Felsen lagen. Je höher er kam, desto steiler wurde es. An einigen Stellen war genug Platz, im Zickzack hochzugehen. Der direkte Weg war zu steil. Seine Fußspuren führten wie eine Schlangenlinie auf den Berg. Hier gab es keine Schlangen, wie auch sonst nirgendwo in Antarktika. Es gab Stellen, da war der Platz nicht vorhanden, um flach aufzusteigen, und der Weg, der kein Weg war, ging steil hinauf. An der Seite war ein Abhang. Ein falscher Schritt und er wäre er abgerutscht und hätte erneut aufsteigen müssen. Seine Füße glitten manchmal ab und mit seinen Flossen konnte er sich nirgends festhalten. Hier war er nicht durch die Felsen, hinter denen er sich sonst verstecken konnte, geschützt. Der Wind blies ihm direkt ins Gesicht.

»Ich werde es schaffen, wenn ich langsam immer einen Fuß vor den anderen setze und darauf achte, dass ich nicht ins Rutschen komme«, sagte er schon etwas genervt, gegen den Wind. Dieser blies mit lautem Pfeifen über das Eis. Der Schnee wurde so wild und flach über das Eis getrieben, dass Ekky seine Füße nur sah, wenn er sie anhob.

Ein lautes Krachen, gefolgt von einem lauter werdenden Grollen ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben. Er kannte die Geräusche aus der Entfernung, aber jetzt kam es direkt auf ihn zu. Ein Schneebrett am Gipfel hatte sich gelöst und rauschte unaufhaltsam nach unten. Die Lawine wurde immer schneller und größer. Sie schoss den Berg hinab. Ehe Ekky einen Gedanken frei hatte, zu entscheiden, wohin er laufen sollte, hatte die Wolke aus Pulverschnee, gefolgt von dem Lawinenkörper aus schwerem Schnee, ihn erfasst und riss ihn mit in die Tiefe.

Aus dem Nichts packte ihn etwas am Bein und zog ihn aus dem weißen Strudel, bevor er in der Lawine begraben wäre. Ekky lag im Schnee und es war wieder still. Er hörte die Lawine, wie sie unterhalb von ihm, am Berg grollend auslief.

Jemand hatte ihn gerettet, aber er sah niemanden. Wer hatte ihn gerettet? Er saß im Schnee und hatte keine Erklärung, für das, was gerade geschehen war. Er hatte den festen Griff am Knöchel gespürt, der ihn packte, als er in den Schneemassen rollte. Er stand auf, schüttelte sich den Schnee vom Gefieder und sah sich nochmals um. Niemand war da, außer ihm. Wer auch immer ihn gerettet hatte, es war hoffentlich keine Möwe. Er wäre nicht begeistert gewesen, sich bei einer Möwe für seine Rettung zu bedanken. Im Schnee neben ihm und an seinen Beinen entdeckte er hellgrünen Staub, der etwas leuchtete. Nirgendwo sonst war der Staub. Ekky versuchte, ihn mit der Flosse aufzunehmen. Der Staub löste sich in der Flosse in Licht auf und war weg. Wer auch immer ihn gerettet hatte, würde sofort zu erkennen sein. Denn Grün war, außer einigen, wenigen Pflanzen und den lodernden hellgrünen Augen von Fluffy nichts.

Ekky machte sich weiter auf den Weg nach oben. Als er um einen großen Felsen herum bog und einen schmalen Pfad ging, der auf den Berg führte, hatte er es fast geschafft. Ein paar Schritte weiter und er war oben. Hier war es flach. Was er sah, beeindruckte ihn. Die große Ebene vor ihm war von drei Seiten mit Bergen umringt. Er drehte sich um und schaute in die Richtung, aus der er gekommen war. Einiges, das in der Nähe war, erkannte er wieder. Das meiste, was er sah, war ihm fremd. So viel hatte Ekky noch nie von der Welt gesehen.

Es hatte aufgehört zu schneien. Der Himmel war wolkenlos und in einem unfassbaren Knallblau gezaubert. »Da unten wohne ich«, juchzte Ekky. »Und da sind Kaiserpinguine!« Die Pinguine konnte er sehen aber nur dadurch erkennen, dass sie alle hintereinander marschierten.

»Da hinten, das kann nur das große Wasser sein«, freute er sich. »Das nimmt ja gar kein Ende. Und wie das glitzert.« Dort schwammen riesige Berge aus Eis. Zwischen ihnen tauchten dunkle Schatten aus dem Wasser auf und wieder ab. Flossen kamen aus dem Wasser und verschwanden wieder. »Beim Pinguin!«, rief er begeistert. »Die sind ja riesig.« Dazwischen sprangen kleinerer Tiere aus dem Wasser und tauchten wieder unter. Es könnten Pinguine oder kleine Robben gewesen sein. Oder beides. Die Landschaft sah aus, wie aus dem Eis gemeißelt und war doch in Bewegung.

Er drehte sich wieder um und sah einen Schneeballwurf entfernt, einen Schatten forthuschen. Er lief zu der Stelle, aber da war niemand mehr. Für eine Möwe war der Schatten zu groß. Jemand verfolgte ihn und wollte nicht gesehen werden. Soweit es Ekky betraf, war ihm das egal. Er könnte sein, dass der Schatten ihn aus der Lawine gerettet hatte. Ekky ging auf die Ebene, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite befand. Er stapfte durch den bis zum Bauch hohen Schnee. Der Schnee war frisch und trocken. Glück für Ekky. Durch einen schweren, nassen Schnee wäre er nicht vorangekommen. Anders sähe das aus, wenn der über Nacht gefroren wäre. Dann hätte Ekky vorsichtig über die oberste Schicht aus dünnem Eis gehen können. Seine großen Füße wären perfekt geeignet für so etwas. Er schob den lockeren Schnee zur Seite und vor sich her, wie ein stumpfer Schneepflug. Es waren ringsum, bis auf den Blick zurück, nur Berge zu sehen. Zu gern hätte er gesehen, was sich dahinter befand. Er stapfte an der Felswand entlang, bis er die Lust

auf Fels verlor.

Er drehte sich um, weil er zurückgehen wollte. Da sah er einen harten Schatten von oben nach unten an der faltigen Felswand. Es gab dort aber keinen Vorsprung, der diesen Schatten werfen konnten. Es war nur ein unscheinbarer Schlitz im Berg, der nach oben offen war. Als er näher herantrat, sah er, dass dies ein Durchgang durch den Berg war. Zumindest führte er, soweit Ekky das sehen konnte, in Richtung der anderen Seite. Einhundert Pinguine hoch und nur fünf Pinguine breit. Es war dunkler hier. Das Sonnenlicht kam nicht ganz bis zum Boden. Ekky schaute nach oben und sah, wie die vereisten, weißen Wände der Schlucht, von oben nach unten immer dunkler wurden. Es war, als würde das Licht von einer Felswand zur anderen springen und auf dem Weg nach unten immer mehr an Kraft verlieren.

Über ihm, aber an vielen Stellen vom Fels versperrt, war immer noch der knallblaue Himmel, umsäumt von den lichtdurchfluteten Eisformationen der Schlucht. Eiszapfen aller Größen hingen überall an kleinen Vorsprüngen. Das Licht sprang dankbar von Zapfen zu Zapfen, um nicht vom grauen Fels aufgesogen zu werden. Es war mehr, als nur eine Schlucht. Es war ein Raum, der sich mit jedem Schritt, den Ekky ging, veränderte. Einige Eiszapfen sahen bedrohlich aus. Ekky konnte nicht weitergehen, ohne den Kopf unter ihren spitzen Enden einzuziehen. An seinen Füßen war es am dunkelsten. Der Boden war aus Geröll und Sand. Schnee hatte sich an einigen Stellen bis nach unten verirrt. Ekky konnte das Ende der Schlucht nicht sehen. Sie zog sich wie ein gezackter Blitz durch den Fels. Die Wände der Schlucht ergänzten sich. Dort wo auf der einen Seite ein Zick nach vorne ragte, war auf der anderen Seite ein Zack, das in das Zick passen würde. Sie würden ineinander passen, ohne einen Spalt zu hinterlassen, als wäre der Berg am Morgen noch geschlossen gewesen, bevor jemand kam und ihn auseinanderriss. Vielleicht endete die Schlucht in einer Sackgasse oder Höhle und nicht auf der anderen Seite des Berges.

Es war einen Versuch wert. Auf Felsvorsprüngen wuchsen vereinzelt Pflanzen. Sie waren klein und wie verknöchert. Sie blühten sogar. Selbst die Blüten waren schrumplig und an das harte Klima angepasst. Sie waren das Gegenteil von den großen, kalten Eiszapfen, die sich von selbst bildeten, nur weil die Sonne etwas Schnee schmolz, der als Wasser an den Eiszapfen herunterlief, auf dem Eis gefror und den Eiszapfen verlängerte. Für die schrumpligen Pflanzen war nichts selbstverständlich und nichts passierte einfach so. Sie kämpften um ihr Überleben und schafften es, weil sie nur das Notwendigste beanspruchten.

In nur wenige Minuten hatte Ekky die Schlucht durchquert und stand in voller Sonne, hoch über einer Ebene aus Eis. Die Schlucht, durch die er gegangen war, hatte etwas Merkwürdiges. Einerseits war es nur eine kurze, hohe Schlucht, die sich durch den Berg zog. Andererseits war sie wie eine Passage, ein Übergang von einer bekannten in eine fremde Welt, in der zwar auch nur Fels, Schnee und Wasser zu sehen waren, hier aber völlig anders aussahen. Hinter der Ebene aus Eis war nichts, außer aufgetürmten Eisschollen, Wasser und Eisbergen. Das tiefblaue Wasser sah noch größer aus, als auf der anderen Seite der Berge, da, wo seine Kolonie war. Die Eisberge strahlten weiß im Sonnenlicht. An ihren Bruchstellen und Verwerfungen bekamen sie durch Schlagschatten einen dramatischen Ausdruck von Kraft und Gewalt. Sie bewegten sich so langsam im Wasser, dass er eine Weile wegsehen musste, um dann zu merken, dass sie sich in der Zwischenzeit gegeneinander verschoben hatten. An Land und im Wasser waren in diesem Moment keine Tiere. Eisschollen, die kreuz und quer überund untereinander verkeilt waren, versperrten den Weg zum Wasser. Von da unten würde Ekky das Wasser nicht sehen. Eine fremde, raue Welt. Die Farben, die Stimmung, alles sah härter aus, als es sich im Herzen anfühlte. Es kam ihm vertraut vor, als gehöre er, auf eine seltsame Art, dazu.

Unerreichbar weit in der Ferne, sah er einen Berg, der direkt aus dem Wasser zu wachsen schien. Es war kein Schnee auf ihm. Der Berg musste gigantisch groß sein. Der Berg verschwamm mit dem Horizont und es gab nichts dahinter und viel Wasser davor.

Gebannt blickte er auf den Berg und fragte sich, warum ein Stück Fels in der Ferne so anziehend für ihn war. Der Berg sah dunkler aus, als das Gestein, das er kannte. Ekky schüttelte sich. Nicht vor Kälte. Er bekam einen Schauer, ohne zu wissen, ob es ein wohliges oder unangenehmes Gefühl war. Er wusste nicht einmal ob es ein Schauer vor dem Fremden oder dem Vertrauten war. Was immer es verursachte, es war mehr, als der Anblick eines Berges.

Die Spitze des Berges − nur der oberste, kleine Punkt − begann zu leuchten. Es war kein Sonnenstrahl, der sie erhellte. Die Spitze leuchtete von allein. Das goldgelbliche Leuchten wurde stärker und strahlte in großen Bündeln von Lichtstrahlen, die sich zu drehen schienen. Das Licht war seltsam und kraftvoll. Obwohl es so hell strahlte, war es kein kaltes Licht, sondern ein warmes, eigenartig vertrautes Licht.

Es kribbelte in seinem Körper, beginnend mit seinen Fuß- und Flügelspitzen. Sein Kopf wurde warm. Das Kribbeln und die Wärme trafen zusammen in seiner Brust. Sein gerade noch aufgeregter Herzschlag wurde ruhiger. Ekky schaute an sich herunter, weil er das Gefühl hatte, zu wachsen. Es sah aus, als seien seine Füße weiter weg und größer geworden. Es konnte eigentlich nicht sein. Dennoch wollte er es sofort überprüfen. Er drehte sich um und ging ein Stück zurück, um seine frischen Fußspuren im Schnee mit ganz frischen Spuren zu vergleichen.

Wenn er wirklich gewachsen war, würde er es gleich erkennen. In der Tat, seine Füße waren jetzt größer. Es gab keine Erklärung dafür.

Wenn es für etwas keine Erklärung gab und er niemanden fragen konnte, akzeptierte Ekky die Dinge, wie sie waren, ohne besorgt zu sein. Ekky verschwendete keine Zeit mit Dingen, die er als nicht durch ihn selbst veränderbare Umstände einschätzte. Große Füße sind nun einmal große Füße. Als er den Schnabel erhob, sah er mit einem Auge, dass seine Brust leuchtete. Sie leuchtete von innen. Es war ein langsames Auf- und Ableuchten, das die gleiche, gelb-goldene Farbe hatte, wie das Licht vom Berg. Seine Flossenenden kribbelten und ein Saum von winzigen, blauen Blitzen erschien an den Flossen, während ihm kalt an den Füßen wurde. Die Blitze schienen auf seinen Flossen zu tanzen.

Ekky blieb immer noch gelassen. Ihm war klar, dass er niemanden kannte, der ihm erklären konnte, was mit ihm passierte. Das blaue Leuchten hatte er schon für einige Momente, als er am Morgen aufstand. Jetzt war beides stärker: das Leuchten und das Gefühl. Dass die Brust in Gelb leuchtete, wurde ihm zu bunt. Mit großen Füßen konnte er umgehen und umhergehen. Wenn jetzt aber das Leuchten und Blitzen nicht aufhören würde, hätte er bald nur noch einen Freund: Retro, dem Ekky, bevor er blaue Funken gesprüht hatte, zu ›uncool‹ war. Das, was in Ekky jetzt ›abging‹, war nicht ›cool‹. Es waren gegensätzliche oder zumindest sehr verschiedene Quellen der Energie. Es war, als würden zwei Kräfte in seinem Körper wachsen und nach außen dringen, ohne sich zu kennen und ohne sich zu bekämpfen. Das Leuchten der Brust war die stärkere Kraft, Sie war tiefer und stärker in ihm verwurzelt.

Seine Gedanken drehten sich. Bruchstücke von falschen Erinnerungen schossen durch seinen Kopf. Die Bilder, die er vor seinem inneren Auge sah, zeigten Orte, an denen er nie gewesen war, Tiere, die er nie gesehen hatte, und Ereignisse, an denen er niemals teilgenommen hatte. Es waren Bilder von Schönheit und Krieg; von Liebe und Verrat; von Freundschaft und Verlust. Die Bilder verschmolzen zu einer Wirklichkeit, die nicht existierte.

Die Bilder waren alle verzerrt. In den Bildern konnte Ekky sich nicht erkennen, aber es sah genauso aus, als wäre er direkt dabei gewesen. Er sah Höhlen, die keine Schlafhöhlen waren. Gigantische unförmige Dinge auf dem Wasser von denen er nicht wusste, was sie waren. Er sah

feuerspuckende Kreaturen, die tauchen und fliegen konnten. Feuer und Blitze – aus dem Nichts entstanden und die so schnell verschwanden, wie sie gekommen waren. Er sah Schneestürme, die sich tobsüchtig auf der Stelle drehten und alles im Kreise mit in die Höhe rissen, dann ihren zerstörerischen Weg fortsetzten und ein Nichts hinterließen. Blanke Stäbe, die in erbarmungslosem Gefecht aufeinander schlugen und alles spalteten, was ihnen nicht widerstand. In feurigen Augen war die Gier nach Vernichtung ohne Gnade.

Er hörte Brüllen, Schreien und Weinen. Er sah, vom Wasser aus, einen Berg, der Feuer spuckte, bevor eine Insel zerbrach. Sie ging unter und riss alles mit in die Tiefe, während die roten Blitze unter Wasser und in den niedrig hängenden Wolken aus schwarzem Ruß und Dampf, mit einem dämonischen Feuerwerk den Untergang begleiteten. Eine Flutwelle brach an gleicher Stelle los und zerstörte alles, was sich auf schwimmenden Dingen auf dem Ozean in Sicherheit glaubte gebracht zu haben und auf der Flucht war, um irgendwo neu zu beginnen. Die Flutwelle rollte durch und zermalmte alles. Auf dem Kontinent Antarktika traf die Flutwelle unzählige Pinguin und Robbenkolonien, die in Küstennähe gelebt und genistet hatten. In wenigen Sekunden wurden sie ausgelöscht und weggespült, als hätten sie nie existiert. Die Bilder waren schrecklich und gewaltig in ihren Dimensionen. Eine Naturkatastrophe unfassbaren, aber vorstellbaren Ausmaßes, die einer Naturkatastrophe folgte bei der zweibeinige Tiere und Ungeheuer mitgewirkt hatten, als hätten sie ihren eigenen Untergang heraufbeschworen und den Rest der Welt dabei außer Acht gelassen. Wie mächtige Riesenkinder, die sich um ein Spielzeug streiten und dabei das ganze Land in Brand setzen.

All das verunsicherte Ekky nicht. Im Gegenteil. Auf eine sonderbare Art fühlte er sich kraftvoll. Ekky wusste nur, dass er diese Bilder noch nie in seinen Träumen hatte und niemand, den er kannte, über Ähnliches gesprochen hatte. Es war etwas, wie ein Geheimnis, dass er hüten würde, bis er selbst, mit eigenem Körper und eigenen Augen erfahren würde, was es damit auf sich hatte. Eines wusste er schon jetzt. Wer das, was er gerade gesehen hatte, am eigenen Leib erfahren hatte, würde es ein Leben lang mit sich herumtragen und vielleicht blieben die Bilder auch noch nach vielen Generationen in den Nachfahren derer, die es erlebt hatten, als qualvolles Vermächtnis der Ahnen erhalten.

Das Blut floss schneller durch seine Adern, ohne, dass sein Herz merklich schneller schlug. Er beobachte den kleinen Saum von blauen Blitzen, der die Kanten seiner Flügel umgab. Die Blitze sprangen umher. Es war ein angenehmes Kribbeln. Es war nicht so, wie wenn er sich kratzte. Es war eher das gleiche Kribbeln, das er hatte, wenn er einen Tag draußen, im eisigen Wind, verbracht hatte, feuchte Federn hatte und zu den anderen in die Schlafhöhle ging, um sich aufzuwärmen. Genau so war dieses Kribbeln. Das Leuchten seiner Brust musste etwas mit dem Licht auf dem Berg zu tun haben. Es gab keine andere Erklärung auch, wenn dies nicht erklärte, warum es so war. Bei all dem Licht, den kleinen Blitzen und der inneren Wärme, vergaß er, dass er ungewöhnlich kalte Füße hatte.

Gebannt blickte er wieder zum Berg. ›Was ist das für ein Licht am Berg? Ob es da noch andere Tiere gibt? Wie lange es wohl dauert, um da hinzukommen? Was waren das für komische Schatten im Wasser? Bin ich größer geworden? Warum leuchtet meine Brust? Was ist mit meinen Flügeln los? Könnte ich Feuer schnauben?‹

Dann war es vorbei. Das Kribbeln, die Blitze, das Leuchten des Berges. Sein eigenes Leuchten war nicht mehr strahlend, sondern dimmte langsam ab. Ekky drehte sich um und erschrak. Direkt hinter ihm musste ein anderes Tier gestanden haben. Wo er eben noch seine Fußspuren im Schnee verglichen hatte, waren jetzt fremde Spuren. Größer, länglich, mit runden Zehen, ohne Klauen. Zwei Abdrücke im Schnee, die von nirgendwo kamen und nach nirgendwo führten. Sie waren da. Das alles war keine Einbildung. Das war kein Traum. Die Spuren konnten nur von einem flugfähigen Vogel stammen, der hinter ihm gelandet war, sich nicht von der Stelle bewegt hatte und wieder weggeflogen sein musste, bevor sich Ekky umgedreht hatte. Welcher Vogel hatte Füße ohne Krallen und runde, kurze Zehen. Die einzige Alternative mochte sich Ekky nicht vorstellen. Er blickte dennoch auf seine eigenen Füße.

›Puh! Alles normal. Gewachsen, aber Pinguinfüße.‹

 

Etwa zur gleichen Zeit im Berg der Hoffnung, so hieß er für diejenigen, die seinen alten Namen Dragomar nicht kannten, bewegte sich ein stattlicher Kaiserpinguin forschen Schrittes auf feinem Sand durch die Höhlen des Berges. Er kam zu einer kleineren, hohen Höhle, in der Eremides im hinteren Teil des Raumes am Schreibtisch stand.

Eremides war ein außergewöhnlich alter Pinguin. Er hatte graue, anliegende Federn zwischen seinem Hals und seiner Brust, die sich wie ein gezackter Ring um ihn legten. Seine grauen, kurzbefiederten Schläfen gingen in lange, dünne Federbüschen an den nicht sichtbaren Ohren über. Er hatte wache, blaue Augen, einen breiten, kräftigen Schnabel und zu große Füße. Ein Kaiserpinguin war Eremides nicht. Er war größer als die größte Pinguinart. Er hatte breitere Schultern, starke Flossen und Beine. Auf der einen Seite sah er aus, wie sich ein jeder einen netten Pinguinopa mit Brille vorstellen könnte. Die andere Seite zeigte die Ruhe eines Meisters seiner Zunft und die Stärke eines Mannes, der sich davor hütete, sie falsch einzusetzen.

Der Schreibtisch war eine mit Werkzeug bearbeitete, oben flache Steinplatte, die auf zwei Steinen auflag. Auf dem Tisch lag eine abgegriffene Karte aus Stoff, deren Seiten sich aufrollten. Der Kaiserpinguin räusperte sich, bevor er näher an den Tisch herantrat. Eremides blickte auf, nahm seine Brille vom Schnabel und sprach: »Maras, wie ist die Lage?«

»Alles im Griff soweit. Keine besonderen Vorkommnisse. Es ist niemand im Berg, den wir nicht kennen. Ein Suchtrupp ist noch nicht zurück, aber das sind wir von ihnen gewohnt. Wenn sie in drei Tagen nicht da sind, schicke ich einen Albatros, um nach ihnen zu sehen. Die Bauarbeiten laufen prächtig. Die Zugbrücke ist fertig und die Nebeneingänge zumindest bewacht und gesichert. Die Temperatur in der Schnupfenzone Bibliothek ist jetzt etwas höher und die Papierproduktion läuft wieder.«

Maras war der Leiter für innere Angelegenheiten und hatte immer Überblick über sämtliche Aktivitäten im Berg und seiner Bewohner, soweit dies möglich war. Nebenbei war er ein begnadeter Trompeter im Eisorchester von Dragomar.

»Schön, schön«, antwortete Eremides.

Maras Augen wurden plötzlich größer. »Eremides, d...ddd deine Brust leuchtet. Siehst du es nicht?«, stammelte er.

»Ich muss es nicht sehen, ich spüre es deutlich«, antwortete Eremides ruhig, ohne an sich hinab zu schauen.

Maras stand da mit offenem Schnabel und blickte abwechselnd in Eremides´Gesicht und auf die leuchtende Brust.

»Sonst noch etwas?«

Maras gewann die Fassung schnell zurück: »Was wir zurzeit umsetzen, ist die Zugänge weiter zu sichern. Damit können wir uns vielleicht verteidigen. Wenn wir aber nicht warten wollen, bis jemand unsere Verteidigung, von innen oder außen durchbricht, sollten wir offensivere Maßnahmen in Betracht ziehen. Wir sperren uns nur ein. Wir flüchten gerade, ohne fortzukommen. Das ist widersinnig.«

»Gut gesagt, Maras. Wir gehen auch nicht fort. Wir müssen nur irgendwo anfangen, um reagieren zu können, ohne überrannt zu werden. Wir haben hier alles, was wir zum Überleben brauchen. Wenn wir belagert werden, können wir warten. Wenn wir eingenommen werden, ist das unser aller Ende. Eines nach dem anderen.«

Das Leuchten in Eremides Brust war nach wenigen Minuten vorbei und Maras blickte ihn fragend an. »Ich hoffe, das war ein gutes Zeichen!«

»Ein sehr gutes Zeichen«, antworte Eremides. »Alles ist in Bewegung. Nichts steht still und wir wissen nicht, was der morgige Tag uns für Überraschungen bereit hält. Sei unbesorgt Maras. Wir müssen uns zunächst um unsere Schwachstellen in der Verteidigung kümmern, bevor wir unsere Stärken ausspielen. Da gibt es genug Ansatzpunkte, an denen jeder mitwirken kann.«

Maras war im Begriff zu gehen und stockte. »Ach ja, ich vergaß. Señor Machete möchte Verbotsschilder in der Bibliothek aufstellen um dem, wie er sagt ›unsittlichen Ansturm auf die Kultur‹ Einhalt zu gebieten.«

»Womit habe ich das verdient?«, stöhnte Eremides ins Nichts. »Hat er dir gesagt, was er damit meint?«

»Nicht direkt, sagte Maras. Er sprach von ausufernden Ausleihen, von zu hohem Papierverbrauch, Lärm beim Umblättern und Zugluft beim nicht sachgemäßen Öffnen und Schließen der Türen und einige andere, leichtere Vergehen.«

»Und, Maras, was hast du selbst beobachtet?«

»Die pure Sünde«, lachte Maras. »Die Leute haben gelesen, geschrieben und sind rein-und rausgegangen.«

»Machete hat eine wirklich wilde Vergangenheit. Er tut so, als sei er mit Kräutertee und nicht betrunken, mit vergorenen Früchten hier angereist. Keine Schilder bitte. Ich spreche mit ihm.«

Maras ging, nicht ohne den Gedanken, dass er es Machete am liebsten selbst gesagt hätte. Eremides nahm eine Albatrosfeder, steckte diese in ein Tintenfässchen, ließ die wertvolle, überschüssige Tinte ins Fässchen zurücklaufen und arbeitete weiter an der Karte.

 

Ekkys Zauberspuk war fast vorbei. Es machte keinen Sinn, darüber nachzudenken, wie und warum das geschah, ausgerechnet ihm. Er würde zu keiner Lösung kommen. Er hatte nicht die kleinste, allerkleinste Idee, was mit ihm geschehen war. In den Alltag zurückzukehren, als wäre nichts passiert, war unmöglich. Um es zu verstehen, brauchte er Informationen, Es hatte sicher irgendwie mit dem Berg und mit dem Licht an seiner Spitze zu tun, weil alles noch viel stärker wurde. Die bunten, verschwommenen und verzerrten, laufenden Bilder, die er in seinem Kopf gehabt hatte, waren zwar nicht seine Bilder, aber sie waren da. Sie waren da, obwohl sie in seinem Gedächtnis nicht als Bilder für ihn jederzeit abrufbar waren. Es war, als ob die Bilder in seinem Inneren durch das Licht geweckt worden seien. Es war, als ob Ekky Teil einer fremden Erinnerung wurde und sie von ihm − verschmolzen zu einer Einheit, die immer noch ein junger Pinguin war und doch die vergangenen Zeiten einer anderen Welt in sich trug.

›Mama und Papa kommen bald vom Fischfang zurück. Es ist besser, wenn ich vor ihnen zu Hause bin‹, dachte Ekky. Damit hatte er Recht, denn Ekkys Eltern waren nicht begeistert, wenn er bei seinen Erkundungen zu weit von zu Hause fortging. Besonders, wenn er dies allein tat und niemandem vorher davon erzählte. Etwas traurig und nachdenklich tapste Ekky, den für ihn jetzt kleinen Berg, ohne Anstrengungen wieder hinunter. Er war so stolz gewesen, dass er es bis nach oben geschafft hatte. Das seltsame Licht hatte alles verändert. Ekkys Alltag kam ihm jetzt noch kleiner, noch unbedeutender vor. Je weiter er trottete, desto schwächer wurde sein Leuchten in der Brust, bis es vollends verschwand. Ekky fiel ein, mit wem er über sei Erlebnis sprechen konnte, ohne dass seine Eltern gleich einen Aufstand veranstalten würden. Es war sein älterer Bruder Spot.