Das Licht von Dragomar 1
Kapitel 6
ERSTER TEIL: ZUHAUSE
TYPISCH ELTERN?
In der Pinguinkolonie angekommen, rannte Ekky zum Grundstück seiner Familie, das etwa zwei mal zwei Meter groß war.Tante Maja wartete auf ihn und auf seine Eltern, wie jeden Abend. »Bist du gewachsen? Du warst lange weg,
»Ekky. Ich hoffe, Du hast keinen Unsinn getrieben.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und musterte ihn mit zusammengezogenen, buschigen Augenbrauen. Er kannte den Blick nur zu genau und er hatte Tricks entwickelt, wie er das Interesse von Tante Maja verfliegen lassen konnte, ohne dass es andere Probleme gab oder irgendjemand Ärger bekam.
»Ich war bei Spot, in der Kommune. Wenn ich groß bin, ziehe ich da auch hin. Da ist es nicht so langweilig.«
»Beim Pinguin, was haben dir diese Nichtsnutze erzählt? Deine Eltern haben sich für dich ein anderes Leben vorgestellt.« Maja schüttelte den Kopf. »Komm erst einmal rein.«
Ein kleiner Schritt für Ekky, über eine nicht vorhandene Türschwelle, in ein nicht vorhandenes Haus, war ein großer Schritt für die Ordnung in der Gemeinschaft. Wüssten die Grundstückseigentümer und deren Nachbarn nicht, wem welches Stück Eisfläche gehörte, wäre es ein unsägliches Durcheinander.
Seine Eltern Rona und Bero kamen vom Fischen zurück. Sein Vater war ein großer, kräftiger Pinguin, der keine körperlichen Auffälligkeiten hatte. Genauso, wie seine Mutter, die kleiner und zarter von Gestalt war. Bevor sie etwas sagten, beugte sich Ekkys Mutter zu ihm herunter und fütterte ihn direkt mit ihrem Schnabel. Sein Vater setzte sich hin und streckte die Beine und Füße aus, soweit dies bei Pinguinbeinen möglich war. Seine Gelenke knackten mehrfach, wie das Zerbrechen
einer dünnen Scheibe Eis. Maja blickte Bero mit einem Hauch von Verachtung an und zog dabei wortlos ihre Augenbrauen diesmal nach oben.
»Wir werden alle nicht jünger, auch du nicht Maja«, sagte Bero und zwinkerte ihr mit einem Auge zu. »Sag doch, Maja, wie lief die Männersuche heute?«, flüsterte er ihr mit vor den Schnabel gehaltener Flosse zu. Sein Flüstern war so laut, dass es selbst entferntere Nachbarn hörten.
»Sie war den ganzen Morgen hier, nachdem sie Ekky geweckt hatte. Am Nachmittag war sie weg«, antworte ein Nachbar für sie. Zwei weitere Nachbarn nickten.
»Hättest du heute nicht auch beim Fischen sein sollen, wie die anderen?«, fragte Maja ihren Nachbarn.
»Ich habe mir gestern die Flosse verstaucht. Mindestens drei Tage Auszeit, es können auch mehr werden.«
»Gehen kannst du ja. Hören und sprechen auch. Du bist schon lange Witwer«, sagte Bero und blickte abwechselnd auf den Nachbarn und Maja. »Geht doch zusammen mal aus! Es gibt nette, ruhige Plätzchen außerhalb der Kolonie.«
Maja riss die Augen auf und spreizte die ›Arme‹ bedrohlich ab. »Bist Du verrückt? Mit so einem ungehobelten Kerl, der nicht einmal in der Lage ist, sein Grundstück in Ordnung zu halten. Völlig ausgeschlossen.«
Auch der Nachbar winkte ab. »Ich habe schon genug Probleme ohne Frau Superkorrekt.«
Bero beugte sich zu seiner Frau, die jetzt neben ihm saß. »Aber die Idee war nicht schlecht.«
Rona schaute zur Seite, als hätte sie das Gespräch nicht mitbekommen. Das machte sie häufig, wenn sie sich nicht zu etwas äußern wollte oder das Thema ihr etwas unangenehm war. Es schien ein völlig normaler Abend zu werden.
»Ekky, komm einmal her! Wie war dein Tag?«, fragte seine Mutter.»Du bist heute gewachsen, aber wie!«
»Ich war baden, bei Spot und oben auf dem Berg.«
»Auf dem Berg?«, riefen seine Eltern gleichzeitig.
»Hat dir dein Bruder das in den Kopf gesetzt?«, fragte seine Mutter.
»Ich habe ihm immer gesagt, dass er nicht …«
»Nein«, unterbrach Ekky. »Ich war zuerst oben und dann bei Spot. Ich bin gern da. Ihr erzählt mir ja nichts.«
»Du weißt, dass du nicht weit weggehen sollst«, sagte seine Mutter.
»Dafür bist du noch zu klein. Da ist nichts außer Fels und Eis. Es gibt überhaupt keinen Grund da hochzugehen. Du hast niemandem etwas gesagt. Stell dir vor du wärst gestürzt und in eine Felsspalte gefallen. Wir hätten nicht gewusst, wo wir dich suchen sollten. Oder noch schlimmer: Wenn du in eine Lawine geraten wärst, hätte dich niemand retten können. Du wärst gestorben und verschollen im Eis.«
Ekky war nicht fertig mit dem Erzählen seiner Erlebnisse und kam direkt mit dem Wichtigsten heraus, obwohl er seinen Eltern, die sich selbst da oben, wo es nichts gab, ganz gut auskannten und obwohl er eine gute Lawinengeschichte, mit gutem Ausgang hätte erzählen können.
»Ich werde zum Berg der Hoffnung schwimmen. Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass da mein Opa wohnt?«
Seine Eltern rissen beide die Augen auf, als hätten sie einen Geist gesehen und stammelten sinnlos durcheinander.
»Weil, weil du, weil, du bist, du, du, ... Du bist zu klein!«
»Woher weißt du davon?«, fragte sein Vater.
»Den Berg habe ich gesehen und Spot hat mir gesagt, dass da unser Opa wohnt und dass er ihn nur einmal gesehen hat, als ich aus dem Ei geschlüpft bin.«
»Wenn der das nächste Mal kommt, um den Kühlschrank zu plündern, spreche ich mal ein ernstes Wort mit unserem Letztgeschlüpften«, sagte Bero voller Entrüstung.
»Wieso Spot? Ich bin doch euer Letztgeschlüpfter«, sagte Ekky, den der Wahrheitsgehalt von Geschichten allmählich mehr interessierte, weil es sich auch um sein Leben drehte.
Die Eltern zuckten zusammen, schauten sich an und ... schwiegen. Dann sprang sein Vater auf. »Du bis zu klein für diese Reise. Basta. Du warst nicht einmal mit uns am großen Wasser. Du kennst die Tiere, die da herumschwimmen und die Gefahren nicht. Ausgeschlossen. Verboten! Basta!«
Ekky setzte sich und senkte den Schnabel. »Ich muss dahin. Mein Leuchten hat es mir gesagt.«
Ekkys Eltern verharrten erneut. Sein Vater hatte eben noch wild gestikuliert. Nun stand er da, wie in der letzten Bewegung versteinert. Auch seine Mutter bewegte sich nicht und schwieg hoffend, dass der Moment vorbeiginge, ohne dass irgendjemand etwas tun oder sagen müsste.
Tante Maja hatte alles mit angehört, schritt zu Ekky, beugte sich vor und fragte: »Was für ein Leuchten, mein Großer?«
Ekky schaute ungläubig die Frau an, die ihn noch am Morgen ›Kleiner Pinguin‹ genannt hatte. »Ich sah das Leuchten des Berges und auf einmal leuchtete meine Brust in der gleichen Farbe. Als in wegging, hörte das Leuchten auf. Ich werde zum Berg schwimmen und nichts kann mich aufhalten. Nicht einmal ihr. Es waren zu viele Bilder in meinem Kopf.«
»Es wird alles gut«, sagte Tante Maja. Sie stellte sich so aufrecht hin, wie nur sie es konnte, drehte sich zu Bero und seiner Frau, die sich immer noch nicht bewegten.
Bero nahm sich ein Herz und sprang auf Ekky zu, bevor Maja etwas sagte, das er nicht hören wollte. »Auf keinen Fall. Wir verbieten dir, allein zu reisen. Im nächsten Jahr vielleicht. Da verreisen wir gemeinsam dorthin. Wir machen Urlaub. Spot kommt bestimmt auch mit.«
Maja beobachtete den verzweifelt redenden Pinguin und sagte, was zu sagen war:
»Bero! Rona! Ihr habt es gehört und wisst, was das heißt. Ihr wusstet immer, dass dieser Tag kommen würde. Nichts wird Ekky jetzt aufhalten. Das Ei war bereits viele Jahre gelegt, bevor ihr beide das Licht der Welt erblickt habt. Akzeptiert das Unausweichliche.«
Ekkys Eltern sahen Maja an. Deren Augenlider senkten sich, in Erwartung des Unausweichlichen. Sein Vater sagte mit gesenktem Schnabel und gedrückter Stimme: »Aber wir sollten erst noch das Schwimmen im großen Wasser trainieren.«
»Und bald kommt der Winter. Im Frühjahr, vielleicht, wenn es leichter für ihn ist, dann ...«, stammelte die Mutter.
»Ja was dann?«, unterbrach Maja. »Bis hierhin haben wir alles richtig gemacht. Er hat sich zu einem prächtigen Pinguin entwickelt, auf den ihr zu Recht stolz sein könnt. Jetzt vermasselt es nicht. Los! Sagt es ihm. Alles. Gebt ihn frei!«
»Tu du es!«, sagte Bero zu seiner Frau. Beide setzten sich zu Ekky, der sie abwechselnd anschaute, ohne etwas zu sagen, was für ihn ungewöhnlich war.
»Sieh einmal, Ekky! Wir sind deine Eltern und lieben dich. Das Leuchten ist etwas ganz Besonderes«, begann dennoch der Vater stümperhaft.
»Und ... und ... und dein Leuchten ist ein Signal des Erwachsenwerdens, was uns ganz, ganz stolz auf dich macht. Das ist ganz normal.«, ergänzte seine Mutter, von Angst und Hilflosigkeit gelähmt.
Tante Majas Hals schwoll von dem hilflosen Geschwafel an und die Pupillen ihrer Augen verkleinerten sich. Sie waren jetzt teilweise von den Büscheln ihrer Augenbrauen, die auf jetzt zusammengezogenen Wulsten von Wutfalten saßen, verdeckt.
»Jetzt reichts!«, brach es aus ihr heraus. »Ich mach´s, sonst sitzen wir noch im Frühling hier und stammeln Nettigkeiten vor uns her, während der Junge hier versauert.« Sie wandte sich zu Ekky und sagte: »Lieber Ekky deine Eltern sind nicht deine leiblichen Eltern. Sie haben dich vortrefflich mit Liebe erbrütet und aufgezogen. Sie werden dich immer lieben, aber deine leibliche Familie lebte einst dort, wo jetzt Eremides, dein letzter direkter Angehöriger, wohnt.«
»Aber ...«
»Ich bin noch nicht fertig, junger Mann!« Maja holte kurz aber tief Luft, ohne ihren Schnabel zu öffnen. Sie blickte zum Himmel, als suchte sie nach den Worten, die sie schon lange hoffte, eines Tages voller Freude sagen zu können. »Du kommst aus einer alten Familie. Deine Vorfahren waren Fürsten. Sie genossen das Vertrauen von vielen und wurden überall respektiert. Eremides brachte dich, als in einem Eisblock gekühltes, schwarz-goldenes Ei hierher und bat diese beiden wunderbaren Pinguine« − Maja zeigte auf seine Eltern, die regungslos da saßen − »dich zu erbrüten und aufzuziehen, bis du selbst spüren würdest, wohin du gehörst, ohne dass es dir jemand sagt. Sie hockten beide abwechselnd auf deinem Ei, ohne dass die Nachbarn die Farbe des Eis gesehen hatten. Nur Spot hat dich auch beim Schlüpfen gesehen. Das Leuchten zeigt, dass du einem der Stämme einer vergangenen Kultur angehörst. In deinem Fall ist es sogar noch komplizierter. Das wird dir Eremides, dein Großvater erklären.«
»Aber ...«
»Du wirst zum Berg der Hoffnung, wie er jetzt genannt wird, gelangen, wenn du es unbedingt willst und stark genug bist. Sei vorsichtig, wem du von deiner Herkunft erzählst. Erwähne nie dein Leuchten, bis du bei Eremides bist.«
»Aber ...«
»Willkommen in der Welt der Erwachsenen. Es gibt nicht immer nur gut und böse, richtig oder falsch. Wir sind auch deine Familie und dies hier ist auch dein Zuhause.«
»Aber ...«
»War es falsch auf den Berg zu klettern? - Verboten? Ja. Gefährlich? Du hättest sterben können. Ja, es war falsch, verboten und gefährlich. In deinem Fall war es zufällig oder durch irgendetwas getrieben, nur vielleicht richtig.«
Das waren viele Worte, die Ekky in seinem Kopf zu sortieren hatte. Das Praktische, dass seine Eltern ein fremdes Ei ausgebrütet haben, verstand er sofort. Das passierte ständig in der Kolonie. Manchmal hatte eine Dame zwei Eier bekommen, manchmal kamen Eltern nicht von der Jagd zurück. Das gab es alles in der Kolonie. Das ganze mysteriöse Zeug mit dem Ei im Eis, alte Kultur, nur einen direkten Verwandten, Stämme und das Leuchten hatte er in seinem Kopf zunächst beiseitegelegt. Ekky fing mit dem an, was ihm sofort einfiel. »Was für eine Tante bist du dann eigentlich?«
Maja lächelte: »Eremides brachte mich mit, als du geschlüpft warst, um auf dich Acht zu geben. Deinem Bruder Spot haben wir erzählt, dass ich lange für Eremides gearbeitet habe und wieder zu euch nach Hause wollte. Er konnte mich also noch nie gesehen haben.«
»Das Aufpassen hat ja wohl nicht so gut geklappt, als ich allein im Wind auf den Berg gegangen bin.«
»Ich war immer in deiner Nähe. Ich hatte das Gefühl, du hättest mich sogar einmal gesehen. Ich zog dich aus der Lawine. Dein Leuchten sah ich nicht. Es war für dich anstrengend und gefährlich. Die Reise zum Berg der Hoffnung wird noch gefährlicher und du bist auf dich allein gestellt, das sind die alten Regeln der Stämme und ihrer Fürsten.«
»Fürsten? So wie der Fürst des Feuers?«
»Der Fürst des Feuers ist abscheulich. Er hat Krieg gegen alle anderen Stämme geführt und wird damit nicht aufhören, bis er gestoppt ist.«
»Puh! Das war heftig«, ächzte Ekky.
»Maja, musste das sein?«, sagte Rona. »Du hast ihn verwirrt und ihm Angst gemacht.«
»Siehst du Angst in seinen Augen, Rona? Er ist bereit.«
Ekky holte tief Luft. »Wenn Opa Eremides mein letzter, leiblicher Angehöriger ist, heißt das, dass meine anderen Eltern und alle Verwandten ...?«
»Leider ja«, antwortete Maja. Von deinem Stamm sollen noch einige in Chile, Südafrika und auf den Galapagos-Inseln verstreut sein, aber wir wissen es nicht.«
In dieser Nacht ging Ekky nicht mehr in die Schlafhöhle. Er blieb bei seiner Familie.
Am nächsten Morgen stand Ekky gemeinsam mit seinen Eltern, Rona und Bero und seiner Tante Maja auf. Die drei und Spot waren zwar nicht seine leiblichen Verwandten, aber sie waren seine Familie. Zu seinen Eltern sagte er: »Ich komme mit euch zum großen Wasser und schwimme dann weiter zum Berg. So sind wir noch etwas zusammen.«
»Das geht leider nicht«, sagte Rona. »Der Berg ist auf der anderen Seite. Du wirst den gleichen Weg nehmen, den du gestern gegangen bist. Es wäre viel zu weit, um die Halbinsel herum zu schwimmen, und das ganze Packeis ist viel zu breit, als dass du es untertauchen könntest. Sei vorsichtig! Pass auf dich auf und gehe großen Tieren aus dem Weg.« Ekkys Eltern umarmten ihn, drehten sich um und gingen, wie jeden Morgen, zum Fischfang. Ekky sah nicht, dass beide beim Weggehen mit den Tränen rangen. Ekky hatte ein mulmiges Gefühl. Es kam ihm vor, als sei sein Zuhause weg, bevor er gegangen war. Als gäbe es jetzt schon kein Zurück. Tante Maja fütterte ihn noch und fragte ihn dann:
»Bist du bereit? Oder möchtest du lieber bleiben?«
»Beides, aber ich muss da hin.«
»So wird es sein. Ich begleite dich ein Stück«, sagte Tante Maja und sie machten sich auf den Weg.
Sie kamen nicht weit. Fluffy stand plötzlich da. Sie hatte die Flossen vor dem Körper überkreuzt und einen wütend aussehenden Fuß nach vorne gestellt. »So, wir machen uns also einfach vom Eis, ohne uns zu verabschieden?!« Ihre wilden rosa Federn wippten noch mehr, als sonst.
»Woher weißt du, dass ich gehe?«
»Die ganze Kolonie spricht davon. Wann kommst du wieder? Kommst du überhaupt wieder?«
»Natürlich. Ich kann nicht sagen, wann. Ich weiß nicht, was mich erwartet und wie lange es dauert.«
»Gut, ich werde warten. Aber nicht ewig«, sagte sie, drehte sich um und schritt mit ihren zierlichen Füßen davon.
»Sie mag dich«, sagte Tante Maja leise.
»Ich sie auch«, sagte Ekky mit trauriger Stimme.
»Ich werde mich um sie kümmern«, sagte Tante Maja. »Ihr werdet euch bestimmt wiedersehen.«
»Wer weiß das schon«, sagte Ekky tieftraurig. »Vielleicht bleibe ich auch für immer weg und sehe sie nie wieder.«
»Du wirst sie wiedersehen, das verspreche ich dir«, sagte seine Tante, die nicht seine Tante war. »Selbst wenn du auf Dragomar bleiben solltest, werde ich Fluffy dann eben mitbringen, wenn ich zurückkehre und dass wird in nicht allzu ferner Zeit geschehen. Ihr seht euch bald wieder.«
»Nein, lass sie hier. Das ist viel zu gefährlich für sie.«
»Ekky, du bist ja ritterlich. Es ist sehr erwachsen von dir, auf sie zu verzichten. Keine Sorge, ihr wird nichts passieren. Sie wird keinem alten Codex Dracones folgen, der ihr den Weg zu sich selbst eröffnen soll, der Kräfte und Entscheidungsfreude, aber auch Vorsicht, Disziplin und Besonnenheit nahe bringt. Sie geht nicht die erste Stufe zur Meisterschaft der Zauberei. Wir machen das anders. Wir rufen uns einen Wal und schippern sicher und gemütlich nach Dragomar. Bei der aktuellen Entwicklung kann es schon sehr bald sein und wir kämen als Flüchtlinge.«
»Was für Flüchtlinge? Wovor wollt ihr flüchten?«
»Von Wollen kann keine Rede sein. Der Standort hier wäre ideal als Außenposten unserer Feinde. Die scheinbar unendliche Landzunge, auf der wir stehen, trennt die beiden Meeresteile über eine lange Strecke. Hier ist es am schmalsten und man käme am schnellsten von dem einen Teil des Meeres in den anderen. Wenn ich so denken würde, wie sie, wäre genau das eines der Dinge, die ich tun würde.«
»Warum wollen sie uns ärgern oder vertreiben?«
»Hier würden sie sogar sagen, dass wir es nicht persönlich nehmen sollten. Sie brauchen den Standort nun mal aus geopolitischen und logistischen Gründen.«
»Waas? Aus was für Gründen? Ist es richtiger, wen man es nicht versteht?«
»Ach Ekky. Kriege werden aus den verschiedensten Gründen begonnen und aus noch mehr Gründen gerechtfertigt.«
»Was für Gründe?«
»Häufig die eigene Befreiung von dem Unrecht derjenigen, die man bekämpft oder unrechtes Verhalten der Nachbarn. Auch beliebt sind historische Wurzeln oder die Korrektur von willkürlichen Grenzziehungen nach einem vorherigen Krieg. Sehr einfach ist der Krieg gegen einzelne Gruppen oder Gemeinschaften, die andere Überzeugungen haben, anders aussehen oder eine andere Lebensart oder Kultur haben.«
»Das klingt so einfach, wenn man es gut begründet«, stellte Ekky fest.
»Es klingt, als sei es normal.«
»Das ist das Problem«, sagte Tante Maja. »Es geht gar nicht darum, mit allen Kräften Kriege zu verhindern, sondern nur darum zu gewinnen und die besseren Gründe zu haben, Krieg zu führen. Es geht sogar so weit, dass die Gründe nicht besser sein müssen. Man muss sie nur besser und lauter erklären, damit jeder Dummkopf glaubt, auf der richtigen, der guten Seite zu stehen. Im Ergebnis sterben viele und das Leid ist groß auf beiden Seiten.«
»Also soll ich mich nicht wehren, wenn mich jemand angreift?«, fragte Ekky und wollte praktische Entscheidungsregeln, die er einfach aus der Erinnerung abrufen könnte.
»Warum sollte dieser Jemand dich angreifen?«, fragte Maja.
»Er wird danach bei sich zuhause die besten Gründe dafür gehabt haben wollen«, sagte Ekky und lachte.
»Ach ja?« Tante Maja stellte den Kopf etwas schräg. »Zum Beispiel, dass er dich davon abhalten wollte aus Versehen auf ein Pinguinküken zu treten, das gerade geschlüpft war?«
»Puh, das ist wirklich nicht einfach«, stöhnte Ekky.
»Was soll Eremides sagen, wenn er entscheiden muss, gegen unsere Feinde selbst einen Krieg zu beginnen, weil er glaubt, genau zu wissen, dass sie uns vernichten wollen? Dürfte er zuerst zuschlagen, wenn er dadurch die Zahl der Opfer wahrscheinlich gering hielte und die Gefahr
möglicherweise beseitigt wäre? – Oder sollte er lieber warten und sich wehren? Er könnte auch versuchen, zu fliehen oder sich zu ergeben und zu warten, was passiert. Er könnte auch versuchen, bis zu seinem möglichen Untergang zu verhandeln. Eremides hat Glück. Er bespricht alles mit alten Freunden, der schon so viele Kriege erlebt haben, dass sie alles tun würden, um einen weiteren Krieg zu verhindern.« Maja sah in das angestrengte Gesicht eines jungen Pinguins, für den die größte körperliche Auseinandersetzung bislang das Werfen von Schneebällen war. »Es gibt meiner Ansicht nur eine Regel. Wenn Unrecht geschieht, darf man nicht wegsehen. Inwieweit man selber handelt, indem man einschreitet, hängt auch von der Einschätzung der Situation ab. Alte Regel: Je schwächer du bist, desto eher suche Hilfe.«
Es war für Ekky ziemlich happig. Gestern erfuhr er, dass er einen Großvater habe und dass seine Familie nicht seine leibliche Familie sei. Heute erfuhr er, dass es wahrscheinlich Krieg geben werde und sein Großvater da irgendwie mit drinsteckte.
Sie gingen auf den Berg. Es war genauso schwer, wie am Tag zuvor aber Ekky spürte es nicht. Er schaute noch einmal auf seine Pinguinkolonie hinunter. Es war gerade die Zeit, in der die ersten kleinen Pinguine geweckt wurden. Ob er das noch einmal wieder sehen würde? Sie gingen weiter über die Ebene durch die Schlucht und sahen den Berg der Hoffnung. Das Licht vom Berg erstrahlte und auch Ekkys Brust begann zu leuchten, genauso stark, wie am Tag zuvor. Trauer und Sorge waren wie weggeblasen.
»Sieh, Tante Maja! Meine Brust leuchtet.«
»Ich sehe es.«
»Was ist das?«
»Ein sehr alter Zauber. Er ist verbunden mit viel Kraft und Verantwortung. Nur wenige haben ihn und bei denen ist zumeist schon fast erloschen. Es gibt verschiedene Ideen, wie oder durch was er wieder an Kraft gewinnen könnte. Doch das sind nur Ideen. Es ist viel Zeit vergangen auf der Suche nach Antworten, die bisher nicht gefunden werden konnten oder sollten. Es ist überhaupt nicht sicher ob und wie sich deine magischen Kräfte entwickeln werden.«
»Ich hatte auch Lichter an den Flossen. Ist das auch ein alter Zauber, der kleiner wird?«
»Ja, aber der ist weniger selten. Das können auch andere. Jeder Stamm, auch der dem du angehörst, hatte Nebenstämme. Das ist so etwas wie entfernte Verwandtschaft, ohne verwandt zu sein. Von denen können auch einige etwas zaubern aber der Zauber ist begrenzt.« Tante Maja klatschte die Flossen zusammen und rieb sie aneinander, bis grüner, leuchtender Staub erschien. Sie nahm die Flossen auseinander und die Innenseiten leuchteten grün. Zwischen den Flossen bildete sich ein Blitz, der als grüner Lichtbogen einige Sekunden strahlend hell leuchtete. Wenn sie die Flossen bewegte, veränderte sich auch der Lichtbogen und surrte laut.
»Wow!, sagte Ekky. »Dann sind wir ja verwandt.«
»So verwandt, wie Spot mit einem Drittel der Kolonie«, sagte Maja und lachte. »Es ist schon eine lange Zeit her, dass die alten Stämme aufgehört haben, zu existieren und ihre Mitglieder neue Familien gegründet haben.«
»Und ich dachte, das Pinguinleben ist langweilig.« Ekky und Maya blickten wieder zum Berg.
»Sieht das nicht großartig aus!«, sagte Ekky.
»In der Tat. Und drinnen ist es noch viel großartiger. Wir werden uns bald wieder sehen. Bis dahin kennst du den Berg schon etwas. Jeder Raum hat seine Magie.«
»Dann komm doch einfach mit. Das wird lustig.«
»Das geht nicht«, antwortete Maja. »Ich habe hier noch einen Auftrag, den ich zu Ende bringen werde.«
»Aber um mich musst du dich doch nicht mehr kümmern. Ich bin ja schon fast weg«, sagte Ekky.
»Nein, um dich brauche ich mich nicht mehr zu kümmern. Du bist jetzt bereit. Aber es gibt da jemand anderes. Außerdem muss ich die gesamte Kolonie und die Kolonien der Kaiserpinguine auf die Zukunft vorbereiten.«
»Dann haben die Kaiserpinguine uns gar keine Möwe aufgebunden, als sie von einem geheimen Auftrag sprachen?«
»Du bist ein kluger Junge. Nun geh! Pass auf dich auf.«
Ekky umarmte seine Tante, die nicht seine Tante war und ging Richtung Wasser. Er drehte sich noch einmal um und rief: »Dann werden die Flammen aus meiner Nase ja wohl auch mit der Zeit weniger werden.«
Tante Maja stockte der Atem. Ihr Schnabel war geöffnet und ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie lief auf Ekky zu, beugte sich nach vorne und packte ihn mit ihren ›Händen‹ an den Flossen und drückte sie an seinen Körper. Ekky war kurz davor, von der diszipliniertesten Person, die er kannte, durchgeschüttelt zu werden.
»Was hast du da gerade gesagt? Dir kamen Flammen aus der Nase? Wann war das? Wie sahen die Flammen aus? Hat das jemand gesehen?«
»Beim Pinguin, sind das viele Fragen. Ich kann es auch nur geträumt haben. Das war gestern Morgen, als du mich geweckt hattest, vor dem Aufstehen. Ich dachte, ich hätte die Augen noch gar nicht geöffnet, so verschlafen war ich noch. Sie waren leuchtend Rot. Der Rauch war auch Rot, aber dunkler. Nein, es hat mich keiner gesehen. Die anderen haben alle noch geschlafen. Ist das auch wieder ein alter Zauber, der auch wieder immer weniger wird? Warum bekomme ich nur Zauber, der vorbeigeht und weniger wird?
»Nein, Eccintes, der du noch viele Namen hast, das geht nicht vorbei. Das kann man nicht lernen. Das bekommst du nicht einfach, weil du jemandes Sohn oder jemandes Tochter bist. Der Zauber ist älter und stärker als alle anderen. Keiner kann ihn dir nehmen. Nur du kannst ihn hüten, schützen und ihn voll entfalten. Solange er von dir nicht kontrolliert wird, seid ihr beide in ständiger Gefahr, entdeckt zu werden. Eure Feinde werden euch zerstören, solange ihr noch nicht stark genug seid, euch zu wehren, wenn sie davon erfahren, dass ihr zusammen seid. Was auch immer passiert, gib euch nicht zu erkennen. Sprich mit niemandem darüber – auch im Berg der Hoffnung nicht. Der Feind hat dort Spione. Nur mit deinem Großvater und seinen engsten Freunden darfst du darüber reden. Hast du mich verstanden? Das hier ist mehr als ein Ausflug zum netten Opa.«
»Aber, verdammt noch mal, wer bin ich denn nun eigentlich? Der Zauberzirkus ist mir ein bisschen zu viel. Alle haben ein normales Leben und ich laufe wie ein Gewitter rum, funktioniere nicht richtig und werde auch noch gejagt werden, für etwas, das nicht funktioniert?«
»Du bist Ekky, aber ein Teil in dir ist älter als der älteste Zauber, als das älteste Wesen. Ein Teil von dir hängt mit den Ursprüngen der reinen Magie zusammen, als noch nicht zwischen Gut und Böse unterschieden wurde. Keiner weiß, wie es entstanden ist. Keiner wird es
je beantworten können, außer dir vielleicht, irgendwann. Es ist auch nicht deine Magie allein. Ekky, es mag eigentümlich klingen, aber du bist mehr, als nur Ekky. Es ist so, dass du mehr in dir trägst als ein normaler Pinguin. Vielleicht hängt es hauptsächlich mit deinen Vorfahren zusammen, oder der Zeitpunkt war der Richtige und du warst gerade da und passend für die Aufgaben, die jetzt vor dir liegen. Dass es ein Zufall ist, glaube ich allerdings nicht. Eines steht fest, langweilig wird dir so schnell nicht mehr und Rocky und seine Bande werden in Ihrem Leben nicht so viele spannende Dinge erleben, wie du in der nächsten Zeit. Eremides wird dir alles erklären, so gut er kann, nachdem er wieder Luft bekommt nach der Feuerüberraschung. Eins ist auch sicher: Damit hat nicht einmal Eremides gerechnet. Wenn du vorsichtig bist und dich auf deine Magie einlässt, wirst du sehr schnell Fortschritte machen und anderen Dinge erklären können, bei denen dein Großvater nur raten kann. Es ist ein wundervoller Tag. Genieße alles, was du erlebst. Übe dich darin, Bindeglied zwischen den Dingen und den Wesen, dem Herz und dem Kopf zu sein. Noch mal, Ekky, pass gut auf euch auf. Eremides wird dir alles erklären und dir zeigen, wie du damit umzugehen lernst.«
Einen kleinen Schreck hatte Tante Maja ihm jetzt doch eingejagt. Da gab es Wesen, die etwas zerstören wollten, das noch nicht richtig funktionierte, das alt und weder gut noch böse war und in ihm steckte? Gut, dass seine Eltern das nicht gehört hatten. Da konnte einem ja nur mulmig werden. Besonders mulmig war ihm, weil Maja gerade zum ersten Mal richtig überrascht war und wie ein Wasserfall und hektisch geredet hatte.
Wenn er es richtig verstanden hatte, sollte er nicht auffallen und so schnell wie möglich zu seinem Opa, den er alles fragen könnte. Nichts anderes wollte Ekky. Nichts passiert, bis auf ein kleines Lichterfest, etwas Feuer und ein paar fremde Erinnerungen. ›Alles halb so wild‹, dachte Ekky. »Ich pass auf, worauf auch immer. Bis bald, Tante Maja.«
»Bis bald, Ekky«, sagte Maja und winkte ihm nach, als er sich auf den Weg nach unten machte.