Der Delfin - mörderische Panik
Kapitel 1

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Noch 10 Tage

Die Essenz des Grauens ist doch nicht sein Gehalt,
sondern sein Effekt.

6 Tote, 53 Verletzte. Massenpanik in Münchner Kaufhaus Hintergruber. Tränengas. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.“ Das sich in lärmenden Lettern anpreisende und Sachverhalte schablonisierende Organ brachte es wieder auf den Punkt. Der Delfin wollte keine Zeitung kaufen. Tat sie auch nicht. Dennoch hämmerten sich die flüchtigen, hieroglyphenartigen Worte, im Sinne einer nahezu bildhaften Vereinfachung in das Bewusstsein und schlichen sich nebenbei in das Unterbewusstsein der zufälligen Erfasserin von Information, die diese weder angefordert hatte, noch sich ausgiebig mit dem Leid der Menschen, dem Unrecht und dem kriminellen Wahn des Täters auseinandersetzen wollte.

„Es gibt viel Elend auf der Welt. Das meiste könnten wir vermeiden. Wir wären in der Lage, Naturkatastrophen zu verhindern oder zumindest besser vorherzusagen. Den punktuellen Ausbruch von gedanklichem Wahnsinn, dem nicht zwingend eine pathologisch feststellbare Störung zugrunde lag, war die Welt ausgeliefert, wie ein Säugling. Wenn gefühlt überall etwas passiert“, dachte der Delfin, „ist man eher geneigt, das Geschehen mit Superlativen zu bewerfen und am Ende des Jahres im Fernsehen erfahren, welche Ereignisse es unter die Top zehn geschafft hatten.“

Der Delfin orderte ihre Zigaretten, während sich ihr Hund ›Mobbel‹ auf die türkische Tageszeitung setzte und bettelte. Der mickrige Stapel war im Weg, auf dem Fußboden. Er lag genau dort, von wo man sich als bedeutungsvoller Hund bestens positionierte um direkt, aber unaufdringlich den Zeitungshändler an seine Pflicht zur aktiven Kundenbindung zu erinnern. Es funktionierte immer und hätte bei Mobbel auch ausgereicht, wenn er im Eingang stehen geblieben wäre oder seinen gewaltigen Kopf mit den Speichel absondernden Lefzen auf den Verkaufstresen gelegt hätte. Mobbel war ein pechschwarzer Neufundländer mit der Norm-Risthöhe einer männlichen Deutschen Dogge von fünfundachtzig Zentimetern. Er war sauber und trocken, sodass die Zeitungen unbeschadet blieben. Gut so; der Delfin sprach kein Türkisch.

Es war acht Uhr fünfzehn, als der Delfin mit Mobbel auf den Isarwiesen ankam. Wie jeden Morgen verrichtete der Hund sein Geschäft und bewegte sich kaum auf der Wiese. Er trottete schnurstracks zur Isar und ging schwimmen, bei jedem Wetter, außer im Winter. Auch er hatte seine Grenzen. Sie trödelten zurück und waren beide in ihrer täglichen Routine. Häufig trafen sie dieselben Menschen, die ebenfalls in ihrer eigenen Routine waren. Dietmar bog in die Reichenbachstraße ein. Er saß in seinem pinkfarbenen City-Flitzer mit dem Werbeaufdruck seines Ensembles aus Hotel, Gaststätte, Bar und Badehaus. Beide sahen sich, winkten sich zu und lächelten.

Für Touristen unvorstellbar, dass der Alltag hier täglich stattfand. „Welche Ironie“, dachte der Delfin. „Wenn der Mensch durchschnittlich dreihundert Mal am Tag lügt, dann sind diese Arten von Begrüßung, hier, auf der Straße, garantiert nicht mitgezählt.“

Man freute sich ehrlich übereinander und miteinander. Genauso sagte man sich die Meinung, wenn man es für erforderlich hielt. So betrachtet, könnten die Zugereisten, die hier auf der Suche nach Anerkennung und Ambiente waren, auf die dreihundert Lügen am Tag kommen.

Der Delfin ging die Fraunhoferstraße zurück und bestellte sich ein Croissant beim Bäcker, während sich der nasse Hund vor der Tür schüttelte. Die meisten Passanten wohnten hier an der Grenze zwischen Gärtnerplatzviertel und Glockenbachviertel und sie kannten den Delfin und den Hund zumindest vom Sehen oder mehr oder weniger noch, dem beiläufigen, freundlichen Grüßen, auch von Unbekannten, das eine Eigenart hier war. Die Welt war im Umbruch, die Stadt im Wandel. Autos raus, Fahrräder her. Wohnpreise und Wohnungskosten stiegen in utopische Höhen, fingierte Abmahnwellen bei der Umstrukturierung zu Wohneigentum, weil irgendein Verwalter und Hausbauer das Objekt gekauft und besser verwerten wollte. Es war unlogisch, anzunehmen, dass der Charme einer lokalen Bedarfsdeckung auch bei Nebenwohnungen erhalten bliebe. Diejenigen, die länger hier wohnten, versuchten zumindest über das Grüßen und kurze Gespräche den lokalen Charakter der neuen Weltstadt, die nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte, durch Pflege der Kontakte und Einhaltung simpelster, gern aufrechterhaltener, ungelogener Benimmregeln, zu erhalten.

Der Delfin zahlte beim Bäcker, als ihr Handy klingelte. Es war kein Klingeln, dem Wortlaut nach, sondern es spielte ›La Mer‹ von Jean Trenet. Der Delfin hatte sich dieses Klingellied runtergeladen, nicht nur, weil es ihr gefiel, sondern weil es dezent begann. Das ständige, laute Geklingel mit mehr oder minder originellen Versuchen der Individualisierung war nicht Sache des Delfins. Es mochte sein, dass extrovertierte Klingeltöne beim Angerufenen Frohlocken hervorriefen, so wie der Delfin immer verzückt war, ›La Mer‹ zu hören auch wenn sie den Anruf selbst eher als störend empfand und nicht selten geneigt war, das Lied zu Ende zu hören. Bauarbeiten machten Lärm. Mussten sie auch. Lautstarkes Parlieren von Menschen, die scheinbar die Welt an ihrem Leben teilhaben lassen wollen, empfand sie als ungebührlich aufdringlich; genauso, wie mit einem Klingelton auf sich aufmerksam zu machen, wie ein Auerhahn in der Balz, bevor er feststellt, dass er eine Wachtel ist und nicht einmal das größte oder bunteste Hähnchen.

„Ja“, sagte sie leise, ins Handy, wie immer, ohne vorher nachzusehen, wer sie anrief und ging schnell aus der Bäckerei zu ihrem fast trockengeschüttelten Hund auf den Gehweg.

„Guten Morgen, Delfin. Hier ist Peter, wir haben ein Problem.“

Peter war Leiter der Ermittlungsgruppe ›Atypische Sondertatbestände‹ des Landeskriminalamts Bayern. Diese spezielle Ermittlungseinheit ist vom bayerischen Innenminister erfunden worden und wurde von ihm ins Leben gerufen. Die Einheit kümmerte sich um alle Fälle, die einen hohen Grad an Unsicherheit bezüglich von Tatmotiven hatten. Sie war interdisziplinär ausgerichtet und war für die Tatbestände zuständig, in denen eine strategische Serientäterschaft oder ein Verfahren oder Angriffsziele nicht vorhandenen Ermittlungsgruppen zuzuordnen waren. Ermittlungen konnten sich über lange Zeiträume ziehen, bis sich so etwas wie ein Bild ergab und man in die Nähe von einem Ermittlungserfolg kam. Es waren auch einige ältere, ungelöste Fälle in den Akten der Abteilung, wenngleich es nicht ihre eigentliche Aufgabe war, ›Cold Cases‹ zu verfolgen. Auch in solchen, ungelösten, übernommenen Fällen lagen zuweilen fehlende Motive, atypische Muster oder Tatserien vor. Bei einigen Fällen wurde der Delfin hinzugezogen.

„Guten Morgen, Peter. Kaufhaus Hintergruber? Kein Einzelfall?“, fragte der Delfin, ohne auf eine Einleitung zu warten.

„Wir wissen es nicht. Wir haben keinen aktuell genau vergleichbaren Fall. Die Bauart ist uns vorher, das heißt, bis vor sechs Monaten, noch nicht untergekommen. Selbst da sind wir uns unsicher. Es gibt kein einheitliches Muster, außer der Bauart der Bomben beziehungsweise Zündsätze – weil sie sich alle selbst zerstört haben. – Das haben sie gemeinsam. Es scheint mehr dahinter zu stecken. Wir ermitteln in alle Richtungen, befragen immer noch die Zeugen. Bisher ergebnislos.“

„Lieber Peter, dass Bomben dazu neigen, bei erfolgreicher Zündung, sich selbst zu zerstören, liegt irgendwie in der Natur von Bomben. Sei bitte präzise.“

„Präzise gesagt, liegt es nicht in der Natur von Gasgranaten oder Rauchbomben, sich selbst zu zerstören. Das hat hier ein zusätzlicher Brandsatz erledigt, wahrscheinlich, um bei über zweitausend Grad, möglichst viele Hinweise zu schmelzen, wie eine Kugel Pistazieneis auf einem schwarzen Autodach im Sommersonnenschein. Sorry, ich bin sauer.“

„Wie kommt ihr dann darauf, dass es ein Wiederholungstäter sein könnte, wenn ihr kein inhaltliches Muster habt? Das ›Wesen‹ der Bomben?“

„Bist du schon zu Hause?“

„In zehn Minuten.“

„Wir kommen vorbei und bringen die Akten mit. Bis gleich.“

„Akten?“, fragte der Delfin, aber Peter Gernsheimer hatte schon aufgelegt.

Der Delfin ging zurück in die Bäckerei, kaufte vier weitere Croissants, ging mit dem Hund nach Hause und kochte eine neue Kanne Kaffee.

Das Wetter war gut und Mobbel ging geradewegs durchs Wohn-, Ess- und Arbeitszimmer auf die große Terrasse, die zum Innenhof lag. Er hatte dort mehrere Plätze und war hier an der frischen, windigen Luft im fünften Stockwerk lieber als in der Wohnung. Der Delfin stellte noch zwei Tassen auf den Esstisch und tauschte ihren Kaffeebecher durch eine Tasse aus. Es roch nach frischem Kaffee und warmen Croissants. Der Geruch von nassem Hund verflüchtige sich schnell oder wurde von den angenehmeren Gerüchen überdeckt.

Gerüche waren dem Delfin wichtig. Einerseits waren sie die angenehmen Begleiter eines geordneten Lebens mit strukturierten Ereignissen, die sich wie ein DNA-Strang durchs Leben zogen und man immer wieder auch gleiche Fragmente stieß, die in unterschiedlicher Frequenz und Anordnung erschienen; andererseits waren es genau diese Unterbrechungen oder Wandlungen von Routinen, die Veränderungen des Individuums oder des Umfelds genauso markierten; wie Geräusche.

Würde es hier, um kurz vor neun Uhr morgens nicht nach Kaffee oder nassem Hund riechen, wären beide nicht zuhause oder der Hund tot. Dass der Delfin auf Tee umgestiegen und der Hund shampooniert und geföhnt wäre, war auszuschließen. Hier war es eindeutig.

Bei den Fällen, die der Delfin aus Interesse bearbeitete, war nichts auszuschließen. Jede voreilige Beurteilung hätte das Bild zu früh verzerrt und die Wahrheit zöge wie ein namenloser Streifen am getunnelten Blickfeld des Ermittlers vorbei. „Der Ermittler“. Der Begriff, gerade, wenn genderkorrekt als „die ermittelnde Person“ bezeichnete, legte offen, was das Problem laufender Ermittlungen war: Die Person, der Mensch mit all seiner geschulten Vorgehensweise, überlagert von Erfahrung über das andere, aber auch menschliche Sein, das es anhand von Mustern und Bezügen zu identifizieren galt. Alle Verfahren und Erfahrungen unterlagen dem gleichen Prinzip, dass es wahrscheinlicher erfolgreicher, weil zielführend und/oder schneller war, irgendeine Systematik anzuwenden, als planlos in den Heuhaufen zu greifen, um die Nadel mit Glück zu finden. Jeder wusste das und doch wurde in jeder Ermittlung, egal, wie weit sie fortgeschritten war, auch kurz mal gegrapscht, ob es vielleicht schon einen Glückstreffer geben könnte. Erreicht wurde genau das Gegenteil. Das Grapschen wurde entweder als generell richtige Intuition gewertet und sich mehr auf diesen Bereich des Heuhaufens konzentriert oder das Gegenteil, die zweite Variante, in der dieser Bereich zu großräumig als „sauber“ bewertet wurde. Der Jagdtrieb führte zu Schüssen und Schlüssen und diese zu Prädispositionen, die das Ordnungssystem störten. Ermittlung ist diffiziler.

Wenn man es mit geometrischen Handlungsräumen oder mit Mengenlehre erfolgreich schaffte, ein Verbrechen aufzuklären, wäre der Delfin generell nicht gefordert oder geeignet. Sie hielt ihre Sinnesorgane aufmerksam für die Eindrücke, die ihr begegneten. Nur so hätte sie ein getarntes Chamäleon in einer schwedischen Fußgängerzone erkannt, ohne es erwartet zu haben.

Der Delfin, als Feministin mochte die nicht genderkorrekte Bezeichnung von „Ermittler“; war es doch Ausdruck dessen, dass Männern zwangsläufig Fehler bei dem Versuch einer neutralen Bewertung von Sachverhalten unterliefen.

Es klingelte zweimal kurz und sie betätigte den Türöffner, ohne vorher das Kauderwelsch-Hin-und-Her-Ritual über die Gegensprechanlage einzuleiten. Hauptkommissar Peter Gernsheimer betrat mit seinem Kollegen Hauptkommissar Hendrik Blech die Wohnung und schloss die Tür hinter sich, die der Delfin offengelassen hatte.

„Guten Morgen nochmals; danke, dass du Zeit hast“, sagte Peter Gernsheimer. Mit Anfang fünfzig war er etwas in die Jahre gekommen, aber man sah ihm an der Art, sich zu bewegen und vor allem an den Augen noch die SEK-Vergangenheit an, auch wenn er einen sehr kommunikativen und dialogoffenen Stil in seiner Abteilung und in der Kommunikation mit anderen Abteilungen pflegte. Formalismus und Dienstweg waren nicht seine Leidenschaften.

„Ihr wisst doch genau, wann ihr mich wo findet. Setzt euch. Ihr seid aber schnell hergekommen.“

„Wir kommen zu Fuß vom Präsidium Löwengrube. In den nächsten Tagen ziehen wir komplett in die neuen Räume, dann sind wir noch dichter bei dir.“

„Das wird hier kein Dauerzustand!“, entgegnete der Delfin und wies auf den gedeckten Tisch.

Kommissar Hendrik Blech war erst seit einem Jahr in München. Er kam aus Hamburg und war dort verdeckter Ermittler im Bereich Organisierter Kriminalität gewesen, bis sie ihn zu seiner eigenen Sicherheit versetzt hatten. Er war durch ein Missgeschick enttarnt worden. Blech war norddeutsch blond, hatte blasse Haut, war etwas schmächtig, markantes, ebenmäßiges Gesicht und konnte gehen, wie ein Model oder der Student von nebenan sein. Wie schnell und durchtrainiert er war, sah man ihm unter den schlaffen Jacken, die meist trug nicht an. Er war eher der Typ Freeclimber als Kugelstoßer. Seit neun Monaten war er jetzt in der Ermittlungsgruppe, die aus einer Stammbesetzung von acht Kollegen bestand, der er jetzt angehörte. Weitere Kollegen und besonders fachlich spezifizierte, wurden im einzelnen Bedarfsfall bundesweit hinzugezogen.

Der Delfin gehörte weder zum Stammpersonal, noch zu den Experten. Sie war die Person mit dem richtigen Riecher und erklärte selbst ständig und ungefragt, dass sie frei von Begabungen sei. Dennoch hatte sie sämtliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen, die in den Bereichen, in denen sie assistierte, erforderlich waren, um ungehindert mitwirken zu können, auch wenn sie formal keine Weisungsbefugnis hatte.

„Peter, du hast nicht von der Akte gesprochen, sondern von Akten.“

Beide Kommissare öffneten die Taschen und holten ihre Notebooks heraus.

„Es ist etwas mehr. Das hätten wir nicht einmal in einem Kofferraum untergebracht. Ich habe dir in deinem Account ein Verzeichnis zu den Daten und Ermittlungsergebnissen angelegen lassen.“

„Kaufhaus Hintergruber? Wo ist das Problem?“, fragte der Delfin.

„Das Problem ist nicht das Hintergruber allein“, sagte Peter. „Genau können wir es nicht sagen aber wir wissen, dass in den letzten zwei Jahren hier im Bereich Oberbayern achtzehn atypische Fälle angezeigt wurden, bei denen Personenschaden entstanden ist und die auf indirekte Gewalteinwirkung zurückzuführen sind. Keiner wurde direkt lebensbedrohlich geschädigt, sondern erst die Reaktionen der angegriffenen Personen selbst lösten den Schaden aus. Wir haben es hier insgesamt mit siebzehn Toten und zweiundsiebzig schwer, mäßig und leicht Verletzten zu tun. Nehmen wir mal als Beispiel das Hintergruber. Wären im Kaufhaus nicht alle in Panik zum gleichen Ausgang gerannt und hätten sie nicht versucht, die Fahrtreppe, die wegen eines Maschinenschadens gesperrt war, hinunterzuspringen, hätten etliche jetzt zwar rote Augen aber wären nicht einmal mehr in der Notaufnahme, geschweige denn im OP, der Intensivstation oder im Leichenschauhaus.“

„Das ist gestern aber passiert. Wie seid ihr so schnell darauf gekommen, dass es andere Fälle gibt?“

„Es gibt keine Motive. Augenscheinlich läuft da jemand rum, der Freude hat, Menschen nur dadurch zu schädigen, dass sie selbst falsch reagieren. Schau einmal her! Das ist ein normales, kleines Segelboot.“ Er drehte sein Notebook zum Delfin.

„Und?“ Der Delfin befreite sich durch heftiges Drücken von dem Hund, der seinen Kopf zwischen die Stühle gedrängt hatte und auch einen Blick auf den Monitor werfen wollte. „Nein, Mobbel, verschwinde.“

„Das ist ein stinknormales Segelboot, wie sie auf fast allen Seen hier herumfahren.“

„Chiemsee, zwei Schwestern; beide ertrunken, weil das Boot gekentert ist“, sagte Blech.

„Ich bitte Dich!“ „Waren sie beide in Leinen verfangen? Konnten sie nicht schwimmen? Westen?“

„Es war Anfang April. Auf einer Feier fingen zwei Burschen an, sich um eine der Frauen zu raufen. Dann sind die jungen Frauen zum Steg, haben das Boot losgemacht und sind mit dem Elektromotor rausgefahren. Es wehte auch kein Wind. Warum sie das gemacht haben, weiß keiner.“

„Männer!“, sagte der Delfin. Sie war immer zunächst aufseiten der Frauen. Das konnte sich schnell ändern, wenn sie merkte, dass keine Aufrichtigkeit, die sie Frauen eher zusprach, dahintersteckte. Dass Frauen von jeher eher Opfer, als Täter waren, gab ihnen beim Delfin einen Bonus, der in Windeseile verspielt werden konnte, wenn ein System der Agitation zu erkennen war, das selbst einen kriminellen Ursprung hatte.

„Sie sind bei völliger Dunkelheit rausgefahren. Wassertemperatur sieben Grad. Niemand hatte sie vermisst – bis zum Sonnenaufgang, dann hatte man das Boot gesehen. Der Mast ragte noch aus dem Wasser. Die beiden Leichen fand man einige Stunden später. Das Boot war durch ein Leck gekentert. Das Leck war präpariert und mit einem Fernzünder versehen.“

„Das war das Bootsunglück? Das heißt, es war Mord?“

„Wir wollten die Ermittlungen so unauffällig wie möglich halten, denn so einen Mord erlebt man nicht alle Tage.“

„Wie bitte?“, fragte der Delfin.

„Loch rein, brennbare Dichtmasse mit Magnesiumspänen drauf und Zünder ran. Der Wahnsinn ist, es waren keine Schwimmwesten an Bord, wie immer, wie die Eltern bestätigt haben und das Loch im Bug war nicht groß genug, als dass sie nicht noch irgendwie zumindest in die Nähe des Ufers hätten fahren können. Sie müssen überstürzt von Bord gegangen sein. Sie sind ertrunken – wegen Unterkühlung.“

„Das ist jetzt fast fünf Monate her“ sagte der Delfin. „Habt ihr keine Anhaltspunkte und warum hast Du mich nicht informiert?“

„Rosenheim war zunächst zuständig. Wir sind erst im Zuge anderer Ermittlungen auf diesen Fall gestoßen und arbeiten jetzt mit den Kollegen aus Rosenheim zusammen. Die dachten bisher, es sei ein Racheakt oder Eifersucht – eine Beziehungstat eben. Dass die Mädchen vielleicht nur zufällig ausgewählt wurden oder von einem Fremden vorher beobachtet und ausgewählt wurden, daran war nicht zu denken. Keiner will, dass da jemand rumläuft, bei dem im Prinzip jeder ein Opfer sein könnte.“

„Was war das für ein Zünder?“, fragte der Delfin. „Bei einem Zeitzünder wäre das Boot wahrscheinlich eher unbemannt, am Anleger abgesoffen und bei einem Fernzünder hätte der Täter die Personen beobachten müssen, oder zumindest das Boot. Über Tage? Wochen?“

„Angelschnur“, sagte Blech. „Wir haben am Liegeplatz eine zehn Meter lange Angelschnur gefunden. Sie war festgeknotet. Wir vermuten, das Boot hatte abgelegt, nach einigen Metern war die Angelschnur, die durch das abgedichtete Loch geführt worden war, gespannt, zog an etwas, das den Zeitzünder auslöste und das Ende der Schnur, an dem eine gewöhnliche Nähnadel verknotet war, wurde durch die Dichtmasse gezogen und blieb im Wasser, während, das Boot mit einem aktivierten, zum Beispiel Säurezünder unbehelligt weiterfuhr. Das Magnesium hat ganze Arbeit geleistet und den Zünder verbrannt und das einströmende Wasser hat es noch angefacht.“

Der Delfin stand auf und blickte nach draußen.

„Delfin, diese beiden Fälle ähneln einander wegen der speziellen Zündvorrichtungen und brennbarem Material“, sagte Peter Gernsheimer. „Dort, wo wir hofften, etwas zu finden, hat ein Magnesiumbrand alles pulverisiert oder geschmolzen oder einen größeren Brand ausgelöst oder beides. Die sind kurz davor und legen Thermitbomben. So einfach die Komponenten auch sind, die Handlungsketten und der Komplexität der Gesamtanordnung, jetzt auch der Bomben untereinander, scheint sich zu steigern. Andere Fälle, für die wir auch weder Verdächtige, noch Motive haben, sind vom Aufbau her ähnlich, nur die Gewichtung der Komponenten ist unterschiedlich. Rauch, Gas, Feuer, manchmal Knall, wobei das Feuer zumeist nur dazu dient, den Bausatz selbst zu zerstören. Schau sie dir in Ruhe an. Es gibt keine Gemeinsamkeiten, bezogen auf die Zielpersonen, Orte oder Sonstiges, außer, dass wir nicht wissen, was los ist.“

„Sind alle Fälle so eigentümlich, Peter?“, fragte der Delfin.

„Zwei fahren auf der Mautstraße plötzlich einen Abhang hinunter. Jemand fünfzig Minuten später an der Sylvensteinsperre; ein Bäcker erliegt einer Mehlstaubexplosion, nachdem das Licht ausgefallen war. Auf einer Autobahntoilette hatte jemand Benzin aus der abgehängten Decke auslaufen lassen und entzündete es erst, als der ganze Bereich schon verraucht war. Einer wurde dabei angefahren und getötet, als sie wie die Hühner auf die Straße rannten. Es gibt keinen inhaltlichen Zusammenhang.“

„Ich habe davon in den Nachrichten gehört. Das eine kam mir wie ein böser Scherz vor, das andere hielt ich für einen Unfall und die brennende Toilette konnte ich mir gar nicht erklären, ohne leicht entflammbares Material. Gestern war es ja offenkundig ein Anschlag. Wie seid ihr so schnell darauf gekommen, dass es andere Fälle gibt, die alle demselben Täter zuzuordnen sind?“

„Ich will nicht sagen, dass wir auf so etwas gewartet hätten, aber gerechnet haben wir damit. Die Zeiträume zwischen den einzelnen Fällen sind zwar verschieden und die Tatorte könnten verschiedener nicht sein. Dennoch trägt alles irgendwie eine Handschrift, die sich nur dadurch zeigt, dass es ein ähnliches Prinzip ist, aber mit zum Teil unterschiedlichen Macharten. Ein gekentertes Segelboot im Chiemsee, die Abstürze auf der Mautstraße, CN-Gas in einer Toilettenanlage auf einem Waldfest, brennende Stadl beim Almauftrieb in Bayrisch-Zell. Delfin, wenn man es noch weiter fasst, ist selbst ein Stromausfall, vor zwei Wochen in einem Altenheim in Rosenheim, der durch eine gekappte Hauptleitung, die bei Bauarbeiten nachts frei lag dazu zu rechnen. Alle Fälle sind etwas verschieden, alle hatten andere Zielgruppen. Dennoch haben alle etwas gemein.“

„Panik!“, sagte der Delfin und reichte Croissants.

„Genau!“, sagte Hauptkommissar Blech. Es ist, wie bei einem Brandstifter, der sich am Feuer ergötzt.

„Sicherlich habt ihr keine Übereinstimmungen bei Personen, die beteiligt waren oder bei Schaulustigen festgestellt, sonst wäret ihr nicht hier.“

„Natürlich haben wir die nicht“, antwortete Peter. Gaby, der Geier sichtet und vergleicht alle möglichen Bilddaten von Überwachungskameras aber auch von privaten Aufnahmen in der Nähe der Anschlagsorte, vor und zum Zeitpunkt der Anschläge. Das sind Terabyte; sie hat Hilfe auf den jeweiligen Revieren. Gaby ist immer noch besser als jede Software, die vergleicht, aber auch langsamer. Wenn sie Übereinstimmungen entdecken sollte – bisher Fehlanzeige – gibt sie es Krümel zur Bildoptimierung. Delfin, es gibt von der Motivseite keine Gemeinsamkeiten. Weder inhaltlich noch räumlich-chronologisch. Allein, dass die Spuren gut verwischt oder vernichtet wurden aber es alles darauf hinweist, dass mehrere Elemente für Effekte parallel und getaktet Verwendung finden, eint die Fälle. Wenn da jemand auf seiner täglichen Strecke von München nach Salzburg von der Autobahn fahren würde, um Verbrechen zu begehen, bekämen wir ein Muster. Hier gibt es keins.“

„Doch, die Panik!“, sagte der Delfin und blickte weiter auf die Tatorte, die Peter auf seinem Notebook zeigte.

„Erzähl mit von einigen Fällen“, sagte der Delfin. Den Rest sehe ich ja in den Akten.

„Der erste Anschlag war wahrscheinlich bei einem Bäcker in Murnau. Wir haben Einbruchsspuren an der Hintertür festgestellt. Die Tür wurde angehoben und aufgehebelt. Es benötigt für so etwas eine kräftige Person und einen guten Hebel. Krümel hat die Tür und die Zarge untersucht. Es war ein Brecheisen. Der oder die Täter haben die Beleuchtung manipuliert, sodass der Schalter an der Zugangstür sowohl hinten, als auch vom Ladengeschäft nicht funktionierten. Weiterhin haben sie im Sicherungskasten wahrscheinlich einige Sicherungen umgestellt.“

„Wahrscheinlich?“, fragte der Delfin. „Habt ihr Fingerabdrücke vom Sicherungskasten?“

„Nein, nichts. Es schien auch ein Brandbeschleuniger im oder am Sicherungskasten gewesen zu sein. Das können wir nach der massiven Explosion mit Nachbrand jetzt nicht mehr feststellen. Sie haben die Beleuchtung als Zünder genutzt, um sechs Sack Mehl, die sie ausgeleert hatten, mit einer Explosion zu zerstäuben, als die Sicherung wieder drin war. Da stand der Bäcker am Sicherungskasten und der Lichtschalter am Hintereingang war noch auf ›An‹. Das Mehl war neben dem Sicherungskasten, der nahe an den Öfen und Rührgeräten war. Die Explosion war zweistufig, auch, wenn es scheinbar in einem Zuge ablief. Ein selbst gebastelter Riesenböller entzündete sich unter dem Mehlberg und zerstäubte das Mehl im Raum. Wäre der Bäcker sofort rausgegangen, ohne irgendetwas zu machen, wäre nichts passiert. Das Mehl war noch kompakt. Da er aber vorher die Sicherung eingeschaltet hatte, was die Explosion, also die Zerstäubung auslöste, hatte er, was eigentlich vernünftig erscheint, jetzt das Gegenteil gemacht und gleich den Notschalter der Hauptsicherung ausgeschaltet. Der vorhandene Strom hatte aber inzwischen einen Elektromagneten aktiviert, der einen Zündbolzen anhob und hielt. Als der Strom weg war, fiel der Zünd- oder Schlagbolzen runter und durchschlug durch die Fallhöhe die Membran, auf der er vorher auflag und zündete das Feuerwerk, das den Mehlstaub entzündete. So die Theorie. Wir haben kaum Beweismaterial, geschweige denn eine Membran. Mehlstaub und die Backstube sind mit dem Bäcker hochgegangen. Er hatte keine Chance. Das Absurde ist, es war ein Einbruchdiebstahl.“

„Diebstahl? In einer Backstube? Was wurde geklaut? Der Ofen, Semmeln, die Strom- oder Gasrechnung?“

„Noch irrer: Natriumhydrogencarbonat“, sagte Blech.

„Backpulver? Das ist ein Scherz!“

„Leider nein. Es war in einem separaten Raum. Zusammen mit den anderen Anschlägen, den Brand- und Rauchbomben, macht das leider schon Sinn.“

„Wenn jetzt noch jemand raffiniert bei einem Haushaltswarengeschäft eingestiegen ist und alles verwüstet hat, nur um ein Multifunktionstaschenmesser zu klauen, habt ihr euren Täter.“

„Das ist nicht komisch, Delfin. So bescheuert es auch ausschaut, die Stoffe werden verwendet, genauso wie Kaliumnitrat.“

„Salpeter? Bengalos? Ist das nicht alles ein wenig einfach?“

„Einfach war der Anschlag beim Almauftrieb in Bayrisch-Zell. Die geschmückten Kühe wurden aus dem Ort getrieben. Das Wetter war perfekt; viele Menschen; Volksfeststimmung. Dann knallte es durch eine Böllerexplosion aus Schwarzpulver, auch auf Salpeterbasis, und dichter, gelblicher Rauch quoll aus einem Stadl, direkt neben der Straße. Danach eine Explosion in einem anderen Stadl, hundert Meter weiter im Ort. Erst war alles verqualmt und dann brannten die beiden Scheunen lichterloh. Die Kühe sind ausgerastet und sind nur geflüchtet. Einige Menschen wurden überrannt. Es gab keine Toten aber vierzehn Verletzte.“

„Ich habe auch davon gehört, dachte aber, es sei ein komplett misslungener Streich der Burschen aus einem Nachbarort.“

„Es gibt kein erkennbares Motiv; genauso wenig wie bei dem Einsatz von CN-Gas im Festzelt auf einem kleinen Waldfest im Kreis Miesbach. Wieder nur Verletzte aber sie sind gelaufen, wie die Hasen.“

„CN-Gas? Hier?“

„Ich weiß, es ist ungewöhnlich. Außer den britischen Kollegen setzt es kaum noch einer ein. Aber es ist CN. Schleuder hat Spuren durch den Gaschromatographen gejagt“, sagte Peter Gernsheimer. „Wahrscheinlich haben wir es beim Kaufhaus Hintergruber auch mit CN-Gas zu tun. Den Verletzungen und Reizungen der Bindehäute nach, war es zumindest CS-Gas und kein Pfeffer. Die Spurensicherung war dran und Schleuder ist dabei.“

„Ihr habt recht, da stimmt irgendetwas ganz und gar nicht“, sagte der Delfin. „Es klingt alles für sich gesehen simpel, aber es ist eine wilde Kombination. Darauf muss man erst einmal kommen oder sie haben die ihnen verfügbaren Stoffe kombiniert. CN-Gas schlägt tatsächlich aus der Reihe.“

„Sag mir, was hat das Kaufhaus mit einem Festzelt zu tun, wenn da jemand nicht nur Menschenmassen in Panik versetzen will?“, fragte Peter.

„Die Panik ist das eine“, sagte der Delfin. „Es macht fast den Anschein, als wollte euch jemand eine Spur legen, um euch auf Glatteis zu führen.“

„Wie kommst du darauf? Da tobt sich jemand aus und will noch ein wenig spielen, bevor ihn die Wiesn unsterblich macht“, sagte Blech.

„Möglich“, sagte der Delfin.

„Wir müssen den Psychopaten ergreifen. Dringend. Den Polizeichef und das Rathaus haben wir schon am Hals. Jetzt kommt auch noch die Presse hinzu. Die werden spätestens jetzt auch recherchieren und merken, dass das keine Einzeltat war. Die Wiesn beginnt in zehn Tagen. Wenn die Presse etwas mitbekommt, sehe ich schon die Schlagzeile: ›Größtes Volksfest der Welt überschattet von Terrorangst!‹ Delfin, alle, ausnahmslos alle, die involviert sind, haben gestrichen die Hosen voll.“

Peters Telefon läutete, nein, es schellte wie ein altes Bakelit-Telefon. Der Ton war dem Delfin von früher vertraut, was nicht gleichbedeutend mit angenehm war.

„Gernsheimer!… Servus!.… Was?… Welche Kollegen sind vor Ort? … Fahrt auch sofort hin und nehmt alles mit, sichert alles und bringt es zu Krümel und Schleuder!… Gut.…Was? Von heute? Nein. Restlos alles, was an Kameradaten da ist, auch außerhalb der Öffnungszeiten.“

Gernsheimer blickte kurz starr in den Raum. Dann besann er sich. „Ein Brandanschlag im Hallenbad, hier in München. Im Bad! Darauf muss man erst einmal kommen. Da verarscht uns einer – aber gehörig.“

„Personenschaden?“, fragte Blech.

„Ja, aber nichts, was man nicht wieder hinbekäme. Achtunddreißig Personen mit Rauchvergiftungen und es gab einige Knochenbrüche auf der Treppe. Sie kamen nicht schnell genug aus den Umkleiden. Jetzt reicht es wirklich. Die abgehängte Decke hat gebrannt, vielmehr ein Brandbeschleuniger selbst hat gebrannt und irgendetwas hat noch mehr Rauch erzeugt. Sie sind fast alle vorsichtig, geordnet raus, um nicht auszurutschen. Das hat ihr Verhalten gemäßigt. Wer macht so etwas? Geht mit einem Kanister Zweitakter-Gemisch und einem Bündel Bengalos unterm Arm fröhlich pfeifend ins Hallenbad, ausgerechnet auch noch zu der Zeit, in der zuvor gerade auf drei Bahnen Seniorenschwimmen und im Nichtschwimmer Seniorengymnastik stattfand, wartet, bis sie alle wieder in der Umkleide sind, das Bad proppevoll ist und spielt dann mit Bengalos Nordkurve im Fußballstadion der dritten Liga? Wir müssen ihn finden. Ich könnte durchdrehen. Da hat einer Lust auf Leid.“

„Keine Panik! Das führt zu Fehlern – und zu Fehleinschätzungen“, sagte der Delfin und blickte in den Innenhof auf das Gerüst des Neubaus, den die Grundstückseigentümer irgendwie, zur Gewinnoptimierung und „urbaner Nachverdichtung“ in den Innenhof gequetscht hatten und der ihr schon im nächsten Sommer die Aussicht gänzlich versperren würde.

„Delfin! Was ist los? Du humpelst ja. Bist Du gestürzt?“, fragte Gernsheimer.

„Innenstadt – Hund an der Leine – Regen – Plastiktüte auf dem Boden, in der Kaufinger Straße – Hund zieht – Tritt auf Tüte – voll auf der Hüfte gelandet.“

Peter verzog sein Gesicht. „Und?“

„Ich bin nicht mehr die Jüngste. Es dauert jetzt länger, bis ich es wieder los bin. Es passt schon, solange ich es überhaupt wieder loswerde.“ Sie hielt inne. „Unser Täter scheint da irgendetwas auch nicht wieder loswerden zu können – oder loswerden zu wollen. Oder er oder sie – halt die Person, spielt ein Spiel mit euch – oder es gibt doch einen niederen Beweggrund, die nicht primär in einer gestörten Psyche zu suchen ist. Es ist schon auffällig, dass, sollten diese Fälle tatsächlich, auch wenn es nur einige von ihnen sein sollten, zusammenhängen, so demonstrativ frei von Mustern bei den Opfern sind.“

„Kein Muster ist auch ein Muster. Es kann nur ein Verrückter sein, der in die Zeitung will. Vielleicht ein Erpresser“, sagte Blech, der jetzt auch stand.

„Wie kommst du darauf?“, fragte der Delfin. „Es gibt kein sichtbares, verwertbares Muster, kein zusammenhängendes Motiv. Alles ist offen und ungeklärt und du willst jetzt schon alle anderen Möglichkeiten ausschließen.“

„So etwas kann doch nur ein Verrückter machen. Ich spreche nur vom Kaufhaus. Ob die Fälle wirklich zusammenhängen, wissen wir ja nicht. Was ist, wenn irgendein Idiot im Internet erläutert hat, wie man die Dinger mit Zutaten aus der Speisekammer bastelt? Er kassiert Werbeeinnahmen bei seinem Online-Video das nicht sofort als gefährlich eingestuft wurde und gelangweilte Idioten setzen die Welt in Brand. Dafür haben wir doch genügend Diktatoren und gewählte Idioten. Oder es ist einfach nur Terror. Dann sind wir nicht zuständig.“

„Nicht zuständig? Glaub mir, egal was es ist, wir sind zuständig. Alle Ämter und Dienste sind seit heute involviert. Wir sind auf dem Präsentierteller, haben aber sehr weitreichende Befugnisse und Spielräume und können auf alles zurückgreifen“, sagte Peter Gernsheimer.

„Profis sind besser, als das, was an Bastelei hier vorliegt“, sagte Blech.

„Und, habt ihr sie, die Amateure?“, entgegnete der Delfin.

„Irre sind nicht kalkulierbar“, resümierte Blech.

„Und dennoch habt ihr all diese Fälle gemeinsam in Bearbeitung, um Rückschlusse zu ziehen? Ich bitte Dich“, sagte der Delfin zu Hendrik Blech. „Dass man so etwas nicht macht, ist klar. Dass hier keine Form der Sozialisierung vorliegt oder sie für ein vermeintlich höheres Ziel oder Reiz aufgegeben wurde, ist auch klar. Es kann sogar so sein, dass der ›Irre‹, wie du ihn nennst, nur den Irren spielt, um von seiner wahren Identität abzulenken. Dass er damit ohnehin einen Dachschaden hat, steht außer Frage“ , sagte der Delfin.

„Also bitte!“, sagte Peter. „›Dachschaden‹ ist wohl nicht das geeignete Wort, eine mögliche psychische Störung zu beschreiben.“

„Ach ja?“, sagte der Delfin. „Mittlerweile wird jedes kleine, emotionale Wehwehchen zu einem Problem stilisiert, weil es gut ist, dass es nicht mehr stigmatisiert wird. Wer Hilfe braucht, soll sich helfen lassen, ohne das zum Selbstzweck, als besonders wichtig zu dramatisieren. Dann klebt die Person an ihrem Leid, das ihr Aufmerksamkeit verschafft. Wer es mit frischer Luft und Schokolade hinbekommt, hat Glück. Hier aber ist der Dachschaden so offenkundig, dass wir über den Hintergrund überhaupt nichts sagen können. Kommt mir bitte nicht mit ›traumatisiert durch Feuer oder Rauch‹, das wäre zu einfach. Warum schränkt ihr das Spektrum so schnell ein?“

„Weil wir Ergebnisse wegen der Wiesn liefern müssen. Und wenn wir nur sagen, dass es keine Probleme geben wird, ist die Stadt schon zufrieden – bislang“, sagte Hendrik.

„Ganz so ist es auch nicht“, sagte Peter. „Natürlich wollen wir wen auch immer fassen, bevor es noch mal passiert. Das hat aber nichts mit der Wiesn zu tun. Die Wiesn ist so weit sicher, soweit man in dieser verrückten Welt überhaupt von Sicherheit sprechen kann.“

„Panik!“, sagte der Delfin. „Mörderische Panik! Entweder lebt sich da jemand aus oder konfrontiert andere mit seinen Ängsten oder seiner Vergangenheit, oder …“

„Oder was?“

„Oder es gibt einen Zusammenhang, den wir nur noch nicht kennen.“

„Unsinn! Die Fälle haben vielleicht den gleichen Täter, aber was bitte haben eine Bäckerei, ein Kaufhaus und ein Segelboot gemeinsam. Und jetzt auch noch ein Hallenbad. Die Opfer wurden sowohl gezielt als auch willkürlich ausgewählt. Da hält uns jemand zum Narren.“ Peter aß mit verschwitzter Stirn sein Croissant mit drei Bissen auf. Die blättrigen Krümel spritzten bei dem Druck durch sein breites Gebiss in lauter einzelnen Spannungsentladungen in alle Richtungen. Das war häufig so und Mobbels riesige, raue Zunge wusste die ungezügelt anmutenden Tischmanieren seines in Rage geratenden Freundes zu schätzen, wobei er selbst nun in ruhiger Rage den harten Splittern gebackenen Teiges nachjagte, was sich in dem langsamen Beiseitedrücken des auf seinem Weg befindlichen, und mit Menschen besetzten Mobiliars äußerte.

Der Delfin stand noch und sah auf den Hund, ohne Notiz von ihm zu nehmen.

„Ist ja gut Mobbel, hier hast du den Rest. Du must nicht auf deine Figur achten, aber du bist ja auch nicht verheiratet“, sagte Peter.

„Du auch nicht mehr!“, sagte der Delfin.

„Danke, dass du mich dran erinnerst. Sehr freundlich.“

„Und wenn er sich reinsteigert und jetzt noch mehr Opfer sucht, die er mit einer einzigen Aktion schädigt? Dann hätten alle recht gehabt, die Presse würde uns fressen und ich könnte wieder umziehen“, sagte Blech.

„Wie geht es eigentlich deiner Frau und deiner kleinen Schwester jetzt hier in München. Hat sich deine Frau mittlerweile eingelebt?“, fragte der Delfin.

„Meine Schwester ist begeistert“, antwortete Hendrik. „Sie hat einen Job und einen neuen Freund. Sie ist viel auf Partys rund um den Holzplatz und jetzt auch im Werksviertel; alles gut. Mit meiner Frau ist das alte Problem geblieben. Es ist ungewohnt für sie, aber auch für mich, wenn ich normal nach Hause komme und nicht über Tage oder Wochen weg bin. Sie ist froh, nicht immer Angst zu haben, zumindest nicht mehr als jeder andere Ehepartner von Polizisten, aber der Alltag hat sich geändert. Es wurde alles regelmäßig und vorhersehbar.“

„Sprichst du von ihr oder von dir?“, fragte der Delfin.

„Vielleicht von beiden. Es ist nicht ganz einfach, auch für mich. Die Energie, die ständige Aufmerksamkeit, das Adrenalin. Das findet nicht mehr statt. Keine heimlichen Durchsuchungen, mit der Gefahr erwischt zu werden. Keine geheimen Treffen mit der Unterwelt. Kein schnelles Abhauen, bevor die eigenen, unwissenden Kollegen einen festnehmen und deine Tarnung und falsche Identität, an der du jahrelang gearbeitet hast, auffliegen würde. Jetzt rege ich mich über jeden belanglosen Mist auf. Es ist schon anders, abends vor dem Fernseher, zwischen Schlagerparade und Krimis, in denen alle supernett oder superschlau sind.“ Blech nahm den Kopf, der zwischenzeitlich etwas abgesackt war, während er auf den Boden gestarrt hatte, hoch und blickte dem Delfin in die Augen. „Wieso?“

„Wieso was?“

„Wieso fragst du nach meinen Gefühlen?“

„Mein lieber Hendrik, ich habe aus Höflichkeit und Interesse nach deiner Familie gefragt. Eure Beziehungskiste und Befindlichkeiten gehen mich nun wirklich nichts an. Keinesfalls wollte ich deine Gefühle verletzen. Es ist schwer; jede starke Umstellung von Tätigkeit und Ort.“

„Sorry, es nervt halt manchmal.“, sagte Blech.

„Alles klar“, sagte Peter, packte seinen Rechner ein, pulte einen Teigklumpen von dem gegessenen Croissant am Eckzahn frei, arbeite bei geschlossenem Mund mit der Zunge nach, blickte fragend zu seinem Kollegen und dann wieder zum Delfin. „Delfin, wenn dir irgendetwas einfällt…“

„Schon klar.“

„Heute stellen wir noch die Personalien fest und machen erste Befragungen. Jetzt gehen wir noch mal zum Tatort und sprechen auch mit der Eigentümerfamilie. Der alte Wilderer soll völlig fertig sein. Sein Lebenswerk. Erst die Kaufhausketten, dann Online-Versandhandel, dann Corona und jetzt auch noch ein Anschlag, der sein Haus schädigt. Die ruhige Übergabe an die nächste Generation wird wohl etwas holpriger ausfallen, als er sich das gewünscht hatte. Was ist? Kommst du mit?“

„Natürlich“, antwortete der Delfin. „Mobbel! Halt, warte! Peter, habt ihr schon Personenprofile der Familie und der leitenden Mitarbeiter angelegt?“

„Keine Ahnung. Lass uns mal sehen, wie schnell meine Leute sind.“ Er öffnete erneut sein Notebook und loggte sich ein. „Sie sind dabei. Schau selbst! Viel ist es noch nicht, nur Eckdaten und Personalien.“

Der Delfin überflog die Tabelle mit den Bildern und Profilen. „Danke. Mobbel, auf!“

Der Delfin schloss die Terrassentür und folgte mit dem Hund den Polizeibeamten auf den Flur.

Sie gingen in die Innenstadt, was nur unterschieden wurde, weil der ansonsten fast kreisrunde Innenstadtgrundriss Münchens genau im Bereich zwischen Viktualienmarkt und Gärtnerplatz bis zur Reichenbachbrücke über die Isar, eine Einbuchtung hat. Der Viktualienmarkt gehört noch zur Innenstadt. Das alte, längliche Festungssystem hatte damals aus gutem Grund Abstand von der gerade bei Schmelzwasser unberechenbaren Isar und ihren die Stadt durchquerenden Nebenbächen gehalten.

Nun war alles reguliert und der durch Hauptstraßen geprägte Stadtgrundriss hatte eine lohnende Delle. Und so war es nur ein Katzensprung bis zur Innenstadt – in zwei möglichen Richtungen; Norden und Osten. Das war nur dann von Interesse, wenn man hier wohnte, oder sich als Tourist wunderte, warum sich eine Residenzstadt nach wenigen Metern völlig anders darstellte und benahm. Das verhielt sich ebenso mit den Wirtshäusern und Biergärten. Touristen und Menschen, die vom Land in die Stadt fuhren, saßen gern an prominentester Stelle in der Öffentlichkeit, während die Münchner auch mal einen zurückgezogenen Innenhof bevorzugten, von diesen es immer weniger gab weil sie entweder zugebaut wurden oder die Anwohner mittlerweile ihre Sensibilität für eine gastronomische Geräuschkulisse entdeckt hatten.

Der Delfin musste diese Sensibilität nicht entdecken. Nachtruhe war für sie immer schon gleichbedeutend mit Nachtruhe und nicht mit einem aus ihrer Sicht gierigem Geschwafel von Urbanität zu argumentieren war. ›The City that never sleeps?‹ So weit war München, zum Leidwesen der Jugend, immer noch lange nicht. Das größte Dorf der Welt war es aber auch nicht mehr.

Sie gingen über den Gärtnerplatz zum Viktualienmarkt. Die Obdachlosen auf dem Gärtnerplatz kannten den Delfin und Mobbel. Sie grüßten freundlich. Es gab immer noch keine öffentlichen Toiletten am Platz oder in der Nähe. Zwei Kunststoff-Systemtoiletten standen am Rande des Platzes und strahlten in Blau-Weiß in der Sonne. Es war nicht das Bayerisch-Blau, sondern das Systemtoilettenblau, das hier als Pilotprojekt zum Testen durch seine Farbgebung etwas von den Blumen und dem prächtig renovierten und erweiterten Staatstheater ablenkte. In München hat es die Angewohnheit, das Pilotprojekte gern direkt in den Bestandsschutz überführt wurden; wie eine freundliche Übernahme durch demokratisch erschlichenes Gewohnheitsrecht. Die selbstverständliche Wiederholung des Verfahrens bei allen schleichenden, statt direkten, dauerhaft manifestierten Veränderungen, vor allem im Bereich Verkehr und öffentlicher Raum, machte es irgendwie, als Schnupperkurs, liebenswert.

Sie gingen fünfzehn Minuten zu Fuß durch die Innenstadt zum Kaufhaus Hintergruber der Familie Wilderer. Die Tochter, das einzige Kind der Eheleute Hintergruber, die das Kaufhaus ihrer Familie übernommen hatten, heiratete in den frühen Achtzigerjahren Alois Wilderer, den man respektvoll, weil er an der Tradition festhielt, „der Alte“ nannte. Seine Frau war mittlerweile verstorben und der Alte, der erst zweiundsechzig war, hatte die Erbengemeinschaft, die Familie seiner Frau, ausbezahlt, weil sie es so wollten und natürlich den Namen des Kaufhauses beibehalten.

Der Himmel war, anders als die Systemtoiletten, tatsächlich in Bayerisch-Blau und es wehte ein leichter Wind.

„Als ich noch in Hamburg lebte, hätte ich nie gedacht, dass es richtig windig in München sein kann. Föhn, klar, aber normaler Wind? Ich dachte, die Luft würde hier stehen.“

Peter Gernsheimer schmunzelte und blickte kurz zum Delfin. Sie schmunzelte auch über die freundliche Einfältigkeit von Blech, für den alles noch neu war. Sein Leben hatte sich auf den Kopf gestellt. Er, der in den schlimmsten Milieus Hamburgs und Berlins verkehrt hatte, parlierte über das Wetter. Es würde noch etwas brauchen, bis er eine echte Beziehung dazu entwickeln würde. Noch sprach er über Dinge, die er wahrnahm, aber noch nicht empfinden konnte.

Neben Gernsheimer gehend, dachte sie an die Veränderungen in der Stadt, die manchmal einschneidend und grob waren aber sich meistens schleichend entwickelten. Während die Bürger sich über die Bauarbeiten bei der Erweiterung der Stammstrecke der U-Bahn über Störungen und Beeinträchtigungen beschwerten, wandelte sich die ganze Stadt. Dem Kommissar Blech ging der Begriff ›Werksviertel‹ so leicht über die Lippen. Er kannte die Entwicklung nicht; noch nicht einmal die Namensherkunft. Davon, dass sich, nachdem die Industrie den Standort aufgab, eine nahezu freie, von Improvisation und Ideen geprägte Kulturlandschaft entwickelt hatte, die ihresgleichen in Europa suchte und die mittlerweile einer strukturierten Stadtplanung nachgegeben hatte, zeigte das Ausmaß von Veränderungen, die passierten und durch umsichtige Kommunikation keine Panik hervorriefen.

„Aber hier liegt es vielleicht ja auch und den Straßen mit den Häuserschluchten“, setzte Blech seine ungeschickten Konversationsversuche fort, während es der Delfin und Peter genossen, schweigend nebeneinander zu gehen und in der Fußgängerzone ein Post-Corona geschäftiges Treiben lärmte.

Die Stadt war proppevoll, aber es war auffällig, dass weniger eingekauft wurde, als vor der Corona-Krise mit ihren Beschränkungen. Es mochte an dem Verbot von Plastiktüten liegen, dass es nur so wirkte, das jetzt weniger eingekauft würde, dachte der Delfin. Aber wo waren dann die eingekauften Waren. Die vielen Taschen und Täschchen waren früher auch dabei und dass nicht überall eine Hose und Schuhe hineinpassten, war eindeutig. Gutscheine zum späteren Download eines Gürtels von zu Hause?

Der Delfin lachte nicht über ihren eigenen Humor, denn es war keiner. Es war ihre Art, die Dinge zu sehen und zu verstehen. Mit Statistiken wollte sie nichts zu tun haben. Marktforschung war ihr ein Gräuel. Was der kleine Mann auf der Straße wollte, wusste nur der kleine Mann auf der Straße, nur der eine und nur in dem Moment. Was er dann bei einer Befragung vielleicht sogar in ein Mikrofon, vor laufender Kamera sagen würde, stand auf einem ganz anderen Blatt.

Sie hasste Verallgemeinerungen, die nur dazu dienlich sein sollten sich die Mühe mit jedem einzelnen Menschen eben nicht zu machen, ihn zu verstehen. Das war zugleich die Gabe und das Selbstverständnis des Delfins. Sie war gesellig und lachte über das Leben mit anderen. Sie lachte und weinte mit ihnen, aber für Durchschnittsunterhaltung, weil man bei Witzen nun mal lachte und bei Zoten, die besonders witzig sein sollten, war sie eisern ablehnend. Eine selbstherrliche, blödelnde Pointe war für den Delfin ein kleiner Schritt auf dem Weg zum Untergang von Kultur und Zusammenhalt aus Selbstverständnis. Es waren immer die kleinen Schritte, die in Kauf genommen oder selbst getätigt, ebenso große Auswirkungen haben konnten, wie das laute Rumposaunen.

Die Hüfte schmerzte und der Delfin ärgerte sich immer noch über ihren Fehltritt auf die Plastiktüte eine Woche zuvor. „Ich dachte, die seien verboten“, dachte sie.

Hendrik Blech atmete tief durch. „Das ist echt eines der Dinge, mit denen du echt nicht rechnest, wenn du aus Hamburg nach Bayern kommst. Wind. – Föhn ja. Bergsicht bei Föhn auch. Aber richtiger Wind?“

Peter und der Delfin sahen sich an und schmunzelten erneut wortlos; jetzt auch über seine Hartnäckigkeit.

Sie gingen über den Rindermarkt und Nebenstraßen zum Kaufhaus Hintergruber. Das Kaufhaus war ein Prachtbau von achtzehnhundertdreiundsechzig. Von draußen sah es schon gewaltig groß aus. Es sah aber immer noch kleiner aus, als es tatsächlich war. Die Details in allen Bereichen des Baukörpers, Säulen, Gesimse, Dekorationen – gliederten das Gebäude, ohne es als einheitlichen Klotz wirken zu lassen. Und dennoch gab es einen roten Faden, der die Kleinteiligkeit im Gefüge optisch und proportional zusammenhielt. Das würde sich beim Betreten des Hauses ändern. Kaufhaus bleibt Kaufhaus und nichts anderes, selbst wenn man versuchte, einen Marktplatz oder eine antike Agora in Las Vegas-Manier nachzubilden.

Das Hintergruber hatte noch den Charme der Siebziger. Aber auch beim Umbau damals hatte man sensibel die Fassadenstruktur erhalten, sodass die zweigeschossige Verkaufshalle und die Fahrtreppenanlage von außen nicht zu sehen war, weil sich hinter den Fenstern im ersten Obergeschoss eine Galerie befand. Die Putzfassade hatte einen warmen Gelbton und zahlreiche Ornamente waren in Weiß abgesetzt. Die Sprossenfenster gliederten die Fassade wohlproportioniert.

Den elektrostatischen Schock bekam man erst, wenn man hineinging. Die Glastür, die nur ein wenig die Fassade zerstörte, öffnete automatisch und ein warmer Vorhang von Luft blies einem vielleicht tatsächlich gefilterte und entkeimte Frischluft entgegen. Der Delfin kannte das Kaufhaus und seine Schwachstellen. Erst Corona und Nachrüstung mit einer UV-Anlage, die nach jetzt drei Jahren hoffentlich immer noch mehr brachte als blaues Licht. Jetzt kamen erhöhte Strom-und Heizkosten hinzu, nur weil irgendwo jemand Krieg führte, mit dem man selbst eigentlich nichts zu tun hatte oder haben wollte. Der Delfin sah das anders. Ursache und Wirkung. Wer einen warmen Luftschwall erzeugte, um die Wärmeverluste des Gebäudes zu reduzieren, nur weil er die Tür offen stehen ließ, brauchte sich nicht zu wundern, dass hinter seinen Schmuckgiebeln stromfressende Maschinen auf dem Flachdach sein mussten. Das Dach dann zu Bienenweide erklären zu wollen, war für den Delfin, wie der tapfere Versuch mit einem Witz eine Beerdigungszeremonie aufzulockern. So war der Delfin. Sie dachte schnell und abstrakt. Sie verknüpfte Dinge, die keinen Zusammenhalt suchten.

Während sie durch den Luftschleier ging, dachte sie daran, wie sie bei einer Beerdigung aufgefordert worden war, nicht von Tod zu sprechen und, noch besser, auch nicht daran zu denken.