Der Delfin - mörderische Panik
Kapitel 2
Tatort Kaufhaus
„Wir kommen hier zum chronologisch zweiten Tatort“, dozierte Blech.
Sie waren bereits hinter dem Absperrband. Das gesamte Kaufhaus war ohnehin geschlossen. Die Beleuchtung war voll an und der riesige hallenartige Raum, der schon vor Jahrzehnten seine besten Zeiten hatte, strahlte eiskalt im gleißenden Neonlicht.
„Hier stand der Abfalleimer, in dem sich der zweite Sprengsatz befand. Das Gas trat um achtzehn Uhr dreiundzwanzig aus und das Feuerwerk ging um achtzehn Uhr vierundzwanzig los.“
„Feuerwerk?“, fragte der Delfin.
„Das Feuer des Magnesium-Brandsatzes, das den ganzen Behälter, bis auf den Boden geschmolzen hat“, antwortete Peter. „Als dann noch ein Mitarbeiter geistesgegenwärtig mit einem Schaumlöscher anrückte und die Sprinkleranlage schon in Gang war, hatte der Magnesiumbrand genug Sauerstoff, um richtig an die Decke zu gehen. Löschdecken werden gerne unterschätzt und viele glauben immer noch, dass man Feuer mit Wasser löscht. Wenn der Bastler auch daran gedacht hatte, ist er wirklich ein Aas und gefährlich. Das, was davon übrig blieb, ist im Labor. Spurensicherung wäre hier das falsche Wort. Die müssen sich erst mal durch den zusammengeschmolzenen Klumpen kratzen. Wahrscheinlich läuft es dann auf eine rein chemische Analyse hinaus. Schleuder und Krümel lieben verbranntes und verklebtes Zeug. Wahrscheinlich kommen sie zu dem Schluss, dass hier kein kompletter Thermit-Sprengsatz verwendet wurde. Wahrscheinlich war nicht mal die Zündkirsche komplett, was den Brand etwas behäbiger machte. – Aber der Retter mit dem Feuerlöscher hat ja nachgeholfen.“
„Wo ging die Aktion los?“, fragte der Delfin.
„Der erste Zündsatz ging genau fünfundvierzig Sekunden früher, im Obergeschoss los. Wahrscheinlich die gleiche Bauart. Jedenfalls zeigen die Überwachungskameras die gleiche Explosion und das gleiche Feuer danach.“
„Und der Dritte?“
„Im Kleiderständer, zwischen Fahrtreppen-Rückseite der aufsteigenden Treppe und Eingang, fünfundzwanzig Sekunden später. Der Mistkerl hat sie wie Vieh durch das Kaufhaus getrieben, runter und hin und her. Die mussten übereinander fliegen.“
„Was macht eigentlich ein Mülleimer hier?“, fragte der Delfin.
„Keine Ahnung. Gibt es nicht überall Abfallbehälter?“, sagte Blech. „Er kann es uns gleich selbst erzählen. Da kommt er mit der buckeligen Verwandtschaft.“
„Nun ist aber gut!“, zischte Peter. „Hier sind Menschen gestorben und der Mann liebt seine Kunden. Nun steht er wirklich allein da.“
„Allein?“, sagte der Delfin und sah die sechsköpfige, gut gekleidete Chefetage und Anhang des Kaufhauses Hintergruber auf sich zuschreiten. Selbst der alte Wilderer ging mit geradem Rücken, hartem Gesicht und entschlossenen Augen.
„Die Familie. Schau, jetzt sprechen sie mit ihren Anwälten, ebenfalls alt eingesessen und miteinander befreundet. Die Söhne wollen angeblich die Immobilie verhökern, sorry, verkaufen. Die Sache hier kommt ihnen sicher gelegen, denn der Alte hatte schon einen Betriebserhalt im Testament verfügt, sagt man“, flüsterte Peter dem Delfin zu.
„Ich erinnere mich“, sagte der Delfin in normaler Lautstärke. „Das ging rum wie ein Lauffeuer, auch wenn man sonst selten etwas von ihnen gehört hatte. Vielleicht war es gerade deshalb so interessant für die Öffentlichkeit.“
„Rechts, das ist sein ältester Sohn“, sagte Gernsheimer. „Er ist mehr in Kitzbühel als hier. Er und seine Frau haben dort einen ›Betrieb‹, in dem sie auch wohnen. Sie designt Dirndl und sie wohnen in dem Haus mit dem Laden und der Mini-Näherei. Ich weiß nicht, ob die jemals was verkauft hat. Und da rechts, das ist seine Schwester. Über sie spricht man nicht. Sie könnte, wie ihr Bruder, in der Promi-Szene voll mitmischen – besser sogar als ihr recht unbeliebter Bruder, aber sie hält sich aus allem raus. Sie ist völlig unauffällig, hat Philosophie und Psychologie in England studiert, wohnt im Lehel am St. Anna Platz, wo sie eine psychologische Praxis hat. Sie besitzt ein Anwesen in der Schweiz und einiges in London. Am Kaufhaus hat sie kein Interesse und mischt sich nicht in die Streitigkeiten zwischen dem Vater und seinem Sohn ein. Links, ganz außen ist der jüngste Sohn des Alten. Er ist das einzige Kind mit seiner zweiten Frau, die vor zwei Jahren an einer Lebensmittelvergiftung starb. Der Alte hatte damit seine zweite Frau verloren. Bei ihr ging es so schnell, dass es die Familie völlig überraschend traf. Ich bin sicher, der Alte hat nun erst mal genug. Der heiratet bestimmt so schnell nicht wieder.“
Das war zu viel für den Delfin. Nach dem ganzen Boulevard-Klatsch nun auch noch eine Leiche als unglücklicher Todesfall in der Familie. Sie prustete los. „Austern oder Pilze?“, fragte der Delfin. Sie hatte sich nach dem Familienporträt dazu hinreißen lassen die verlautbarte Klischeewelt, um übliche Vergiftungen zu ergänzen, wobei die Pilzvariante aus der Luft gegriffen war, weil die Chefköche der Haute Cuisine da keine Fehler machten und das eigenständige Pilzesammeln, ohne sie zu kennen, eher was für unwissende Städter war.
„Es waren tatsächlich Pilze. Satanspilze unter den Steinpilzen. Sie hatte es selbst gekocht von selbst gesammelten Pilzen im Wald an der Würm, sechs Kilometer nördlich von Starnberg, wo sie alle am Wasser wohnten. Sie waren gemeinsam Pilzesammeln an einem Sonntag. Das Hauspersonal hatte frei und die Frau Wilderer kochte für alle Gulasch. Es ging aber sehr schnell. Sie hatte Übelkeit, Erbrechen, Herzrasen und war tot, bevor sie behandelt werden konnte.“
„Warum stehen die anderen noch, wenn sie für die ganze Familie gekocht hatte?“, fragte der Delfin. Sie hatte eine Ahnung, aber sie traute sich nicht es auszusprechen.
„Es muss beim Abschmecken passiert sein“, sagte Blech. „Zumindest nach dem Bericht hat kein anderes Familienmitglied davon gegessen und der Topf stand noch auf dem Herd, als sie zusammenbrach.“
Der Delfin stellte sich bildhaft vor, wie eine erwachsene Frau Gulasch kochte und dann beim Abschmecken einer tödlichen Pilzvergiftung erlag. Der Delfin versuchte alles, um bei ihrer Professionalität zu bleiben, ohne mit durch den Märchenwald zu wandern.„Ich bin kein Pilzkenner, aber Satanspilze schnell tödlich? Bei einer erwachsenen Frau?“
„Hat die Kollegen damals auch gewundert. Letztendlich war es die einzige Lösung. Sie hatte schon vorher Herzrhythmusstörungen und war in Behandlung. Es wurde nichts anderes gefunden, was der Auslöser hätte sein können. Bis auf eine alte, verschleppte Herzmuskelentzündung, die kaum Auswirkungen gehabt haben dürfte, war sie gesund.“
Der Delfin schaute sich die Familienmitglieder einzeln an. Das ging bei ihr in Bruchteilen von Sekunden. Sie achtete zunächst auf Empathie und wenn sie irgendwo hängen blieb und das Bild nicht oder zu gut zu ihrem Gefühl passte, achtete sie stärker auch auf vermeintliche Oberflächlichkeiten.
Der Alte war ein Mann, der sein ganzes Leben bisher gearbeitet hatte und nicht damit aufgehört hatte, als er es sich leisten konnte. Es schien nicht alles leicht auf seinem Weg gewesen zu sein. Er würde sich, wenn immer es möglich war absichern wollen, um das, was er übernommen und aufgebaut hatte und das, was er vorsichtig neu geschaffen hatte, nicht zu strapazieren. Er schien das, was er tat zu lieben, aber er wäre auch als Rosenzüchter seinen Prinzipien treu geblieben. Er sah älter aus, als er war. Die letzten Jahre schienen ihm so schwer zugesetzt zu haben, dass die Sinnfrage in hellen Lettern über seinem Haupt blinkte.
Die Tochter des Hauses war circa einen Meter zweiundsiebzig groß, hatte langes, Meir-blondiertes Haar, das zu einem Pferdeschwanz streng zusammengebunden war. Die Lippen waren in mattem dunkelrot auf Angriff oder Abwehr, je nach Gesichtsausdruck, geschminkt, wie die Augen, denen eine Dramatik innewohnte. Ansonsten war sie sehr blass gepudert, ohne Rouge. Ihre Wangenknochen, die eine ästhetisch-geometrische Fortführung eines gesunden, strahlend weißen Gebisses waren, bedurften keiner weiteren, optischen Betonung neben ihrer kleinen Nase. Sie hatte ihren schlanken, sportlichen Körper in einem schwarzen Hosenanzug hierher gebracht.
„Insgesamt ein sehr urbanes Auftreten“, dachte der Delfin. Dagegen wirkte der ältere Bruder wie versuchter Landadel mit bayerisch gespieltem Traditionsbewusstsein. Der Delfin dachte daran, wie viele es in gleicher Manier versuchten und dann doch wie ein Stock im eigenen Ungemach zu stecken. Wenn das Selbstverständnis fehlte, ist es eine Verkleidung, die so ziemlich jeder auch als solche erkannte, auch wenn sich viele selbst verkleideten und sich gegenseitig darin bestärkten.
„Was waren das noch für Zeiten, als der einzige Zufluchtsort für Raucher in einer Scheinremise am Dom war und gerade an Feiertagen traditionsbewusste Landbevölkerung auch auf orientierungslos verkleidete Kindgenerationen der städtischen Großköpfe trafen. Die einen waren selbstbewusst und gesellig. Die anderen, längst nicht alle, eher laut und auf der Suche nach ihren Grenzen im Gefüge“, dachte der Delfin, fast unausgesprochen hörbar.
Der jüngste Sohn des Alten hatte langes Haar, trug Sneakers, und sah völlig unprätentiös aus. Er war so offen und interessiert, wie so viele junge Menschen es sein könnten. Auch wenn er ein anderes Auftreten hatte, sah er seinem Vater, der leicht hätte sein Großvater sein können, am Ähnlichsten.
Der Delfin urteilte so schnell, wie sie auch in der Lage war, eine Fehleinschätzung sofort zu revidieren. Sie tat es zumeist so unauffällig und ohne, dass man darauf käme, beurteilt zu werden, dass sie sich nur sehr selten bei jemandem den sie falsch gesehen hatte, entschuldigen musste. Die Akkuratesse im Umgang war ihr wichtiger als ihre mögliche Abneigung zu Markte zu tragen. Es war ohnehin alles in Bewegung in dem Nagelbild, das sich Leben nannte.
Die Kaufhausfamilie kam zu den ermittelnden Beamten. Der federführende Anwalt der Familie schoss mit raumgreifenden Schritten voran, blickte irritiert auf den Hund, hielt entsprechend etwas Abstand und stellte sich vor.
„Berthold, guten Tag die Dame, meine Herren. So trifft man sich wieder. Entschuldige Gernsheimer, dass ich dir neulich die Arbeit etwas erschwert hatte. Er war mein Mandant. Ich selbst halte auch nicht viel von Nacktheit im Englischen Garten, aber sind wir nicht alle nackt auf die Welt gekommen?“
„Berthold, schweige hier und jetzt lieber!“, schnauzte Gernsheimer. „Dein Aas von einem Mandanten ist ein Drecks-Exhibitionist. Der ist nicht nur nackt, wie er auf die Welt kam oder als überzeugter Nudist durch die Natur geeiert. Er lungerte rum und lauerte Kindern auf und stellte sich zur Schau. Das ist mehr, als Erregung öffentlichen Ärgernisses. Du weißt es, wie ich. Dass du überhaupt so einen Abschaum vertrittst, ist mir ein Rätsel. Du hast es doch wirklich nicht nötig. – Ach ja, sein Vater ist ja im gleichen Golfklub, wie du. Ich hatte vergessen, wie es läuft. Pech, dass wir auch in unserer Freizeit Polizisten sind.“
„Abgeregt? Sind wir wieder gut oder zumindest professionell?“, sagte Dr. Berthold und wandte sich formal an alle drei. „Ich vertrete die Interessen der Familie Wilderer und damit auch der Betriebsgesellschaft des Kaufhauses in allen Belangen. Sie erhalten selbstverständlich uneingeschränkte Kooperation von unserer Seite und sämtlichen Mitarbeitern. Ich bitte Sie nur, das Objekt noch heute wieder freizugeben, damit wir bis Freitag wieder öffnen können.“
„Wie stellst du dir das vor?“, sagte Gernsheimer. „Dies ist ein Tatort. Es sind Menschen gestorben. Die Ware ist hin. Klärt das doch bitte eher mit deren Versicherung.“
„Wir haben die gesamte Sonderveranstaltung ›Oktoberfest‹ noch im zweiten Obergeschoss und unser Lager in Haar ist voll. Die Wiesn startet in zehn Tagen und das Zeug muss verkauft werden.“
„Zeug trifft es wirklich“, sagte Gernsheimer und blickte auf die Aktionskleiderständer, die zum Direktkauf animieren und die Besucher zur Fahrtreppe nach oben locken sollte. „Lederhosen heißen nicht umsonst Lederhosen und nicht Lederhosendruck auf chinesischer Baumwolle oder russischen Öltierchen.“
„Alles viel zu teuer, die Kunden wollen spontan kaufen und sich amüsieren“, antwortete der Anwalt. „Nach der Wiesn ist nach der Wiesn und noch nicht vor der Wiesn. Die Welt ist und bleibt Saisonware.“
„Zu teuer? Ich habe meine Hose seit zwanzig Jahren und ziehe sie immer wieder ganz spontan an und amüsiere mich, wenn ich an die Kosten und Ökobilanz der Wegwerfartikel hier denke.“
Peter Gernsheimer war der jüngste Sohn einer oberbayerischen Großfamilie. Sein Cousin hatte den Hof, weil auch Gernsheimers Vater nicht der älteste Sohn war. Dennoch lebte ein Großteil der Familie an oder sogar auf dem Hof. Die anderen wohnten in Bad Aibling, Miesbach oder Rosenheim. Gernsheimer pendelte täglich von Bad Aibling. Als Spross einer Landwirtsfamilie kannte er die Probleme der Bauern - von der Vogelgrippe, Schweinepest, Marktpreise bis zu den Kosten von Biofutter. Von den geschlachteten Tieren wurde alles verwendet. Er hatte etwas gegen Verschwendung und die aufgedruckten Seppelhosen aus Fernost hielt er für so sinnlos und dumm wie nur irgendwas.
„Wann geben Sie das Objekt wieder frei?“
„Wir sind soweit durch. Die Kollegen haben schon zusammengepackt. Ich denke morgen Mittag.“
„Das sind sehr gute Neuigkeiten, danke dir“, sagte Dr. Berthold und ging zur Familie, die etwa acht Meter entfernt gewartet hatte. Nun kamen auch sie. Der Delfin sah einen müden, aber disziplinierten, dennoch aufgeregten, alten Mann, als dieser als Familienoberhaupt zu sprechen begann, nachdem Dr. Berthold sie einander kurz vorgestellt hatte.
„Es ist schrecklich. Die armen Menschen. Sie kamen als unsere Gäste und verloren hier ihr Leben. Vielleicht sollten wir das Haus im Februar schließen und das Objekt doch verkaufen, so wie du es schon lange willst“, sagte der Alois Wilderer und blickte zu seinem Sohn. „Wenn wir jetzt schließen, wäre das unser Ruin. Die gesamte Ware ist bezahlt und die Mitarbeiter müssen sich neue Arbeit suchen. Ich habe immer versucht, das zu verhindern. Nächstes Jahr wollten wir umbauen, uns modernisieren, Erlebniszonen schaffen, ein neuer Fußboden mit Industrieparkett. Alle Pläne sind dahin. Ich kann und will nicht mehr.“
„Haben Sie irgendwelche Drohbriefe erhalten oder gab es Erpressungsversuche? Angezeigt wurde bei uns zumindest nichts“, fragte Blech.
„Wer sollte uns drohen oder erpressen? Unser Haus ist seit sechzig Jahren hier. Wir sind ein Kaufhaus und beschäftigen zweihundertzweiundachtzig zufriedene Mitarbeiter.“
„So ganz richtig ist das nicht“, sagte sein Sohn Ludwig.
„Wos sogst, Wiggerl? Nix is!“, entwich es dem Alten, der sich daran gewöhnt hatte, immer weniger sein Boirisch zu sprechen. Mittlerweile sprach er mehr englisch als bayrisch.
Dr. Berthold griff ein. „Es gibt Drohbriefe, die vage formuliert sind. Sie sind alle in München abgestempelt. Der Inhalt ist immer gleich. Sinngemäß: „Macht das Kaufhaus zu und schafft bezahlbaren Wohnraum. Wir brauchen keine Luxus-Kaufhäuser. Macht zu oder wir fackeln euch die Bude ab!“; alles leere Drohungen.“
„Leere Drohungen! Ach ja?“, wiederholte Gernsheimer,
„Was für ein Schmarrn! Luxuskaufhaus. Wir sind ein Vollsortimentler. Wir haben kein ›Shop-in-Shop‹-System. Wir verkaufen sogar Kurz-und Schreibwaren im Keller. Natürlich wird das Sortiment dem Wandel angepasst. Wohnraum? Wie stellen die sich das bei der Gebäudetiefe vor? Wie lange geht das? Warum hat mir keiner was gesagt?“ Der Alte schnaubte vor Entrüstung.
„Seit zwei Jahren. Seit dem Tod von Rosi“, antwortete sein Ältester.
Rosi war die zweite Frau des Alten, die der die Pilze nicht bekommen waren.
„Die Briefe kamen fast regelmäßig; jeden Monat.“
„Gestatten Sie mir eine simple Frage!“, sagte Gernsheimer mit ruhiger Stimme, die nicht zu seinem starren Blick und hochrotem Kopf passte, der ihm den Ausdruck vermitteln ließ, dass er nicht auf eine freundliche Genehmigung warten würde, um fortzufahren. „Warum in Herrschaftszeiten erfahren wir erst jetzt, nach zwei Jahren, von Drohbriefen? Haben Sie die nicht ernst genommen? Konnten Sie das so gut beurteilen, weil bislang niemand hier gestorben ist?“
Dr. Berthold griff ein: „Weil wir Herrn Wilderer Senior, nach dem Tod seiner Gattin nicht zusätzlich aufregen wollten. Eine Anzeige hätte sowieso nichts gebracht. Sie wissen selbst, dass das kein Einzelfall ist. Viele große Einzelhändler haben solche Briefe bekommen und Anzeige erstattet. Was ist dabei rausgekommen? Nichts. Dass die Schreiben an uns noch mehr Aufschlüsse hätten geben können, welche die Polizei ohnehin nicht hat, bezweifele ich stark. Wir wissen auch von anderen Händlern, die beleidigt oder bedroht wurden, ohne dass sie Anzeige erstattet hätten.“
„Unzufriedene oder entlassene, Angestellte oder ein unbezahlter Zulieferer, Dienstleister?“, fragte Blech wenig investigativ.
„Als Serienbrief an die Händler der Innenstadt?“ Der Delfin war ungeduldig, wenn unnütz laut und falsch gedacht wurde.
Der Delfin beobachtete alle und versuchte nun, nach der Empathiebetrachtung und den offensichtlichen Äußerlichkeiten, wie ein guter Karikaturist nicht nur die Äußerlichkeiten zu betrachten, sondern auch das Auftreten, die Bewegungen, die auf Unsicherheiten oder Zusammenhalt, Unruhe, Ungeduld oder auch Zuversicht und Selbstbewusstsein hindeuteten, zu verarbeiten. Das waren dann auch nur Übergangsbilder, aber sie halfen ihr, eine umstößliche Ordnung zu schaffen, allein, damit sie die Gesichter den Namen später wieder zuordnen konnte, denn sich Namen zu merken war nicht ihre Stärke.
Den alten Wilderer, bei dem die Kurzform ›Der Alte‹, die ihm selbst gegenüber nie Verwendung fand, eine Art Respektbekundung für einen Mann, von gerade erst zweiundsechzig Jahren war. Bei ihm ging vieles schneller – auch das Altern, denn frisch sah er nicht aus. Müde, traurig, einsam; kränkelnd, ohne wirklich an körperlichen Defiziten zu leiden, die seine Stimmung hätten beeinträchtigen können. Er hatte das ehemals kleine Kaufhaus größer gemacht, erweitert, renoviert und zumindest von Außen zu einem Schmuckstück gemacht. Er hatte die Kaufhaus-Familie in die er aus Liebe und Kalkül hineingeheiratet hatte auf deren Wunsch ausbezahlt, wie man sagte über Gebühr, dem damaligen Nennwert und unter größten Anstrengungen. Er galt als überkorrekt und über die Fairness hinaus, als Vertrauter und helfende Hand bei allen seinen Mitarbeitern, was zur Folge hatte, dass die Belegschaft ein, so würde jede Krankenkasse und Bank argumentieren, wirtschaftlich kritisches, überdurchschnittlich hohes Durchschnittsalter hatte. Dennoch oder gerade deshalb hatte er es durch viel Arbeit und auch später mit dem richtigen, nicht gierigen Riecher geschafft ein beachtliches Vermögen aufzubauen, das ihm und seiner Familie die Unabhängigkeit sichern sollte. Er trug eine Kombination mit Weste aus besten italienischen Stoffen und sah aus wie ein Macher und Dienstleister. Der Anschlag vom gestrigen Abend, bei aller Tragik, hatte ihn nicht, wie es zuerst aussah, gebrochen aber schwer erschüttert.
Sein zweiundvierzigjähriger Sohn aus erster Ehe sah aus wie ein Clown, der seine Rolle nicht verstanden hatte. Er war verkleidet aber nicht lustig. Das war tragisch, aber nicht bemitleidenswert. Er war in Janker, Weste und eleganter Tuchhose gekleidet, die er trug, ohne dass das Outfit irgendwas nach außen tragen würde. Er war laut, aber nicht melodiös. Ludwig – Wiggerl – Wilderer schien es geschafft zu haben, eine Nische im sozialen Gefüge besetzt zu haben, die keiner selbst besetzen wollte – auch Ludwig nicht. Selbst seine himmelschreiende Bedeutungslosigkeit blieb auch in einer ebenso lauten Wolke von Eau de Toilette ungehört. Er schaffte es, dazuzugehören, weil er nicht bewertet wurde, genau wie jemand, der sich auf jedem Promi-Event einschlich und jeder, der freundlich mit ihm sprach, nicht wusste, wer er war und wo er ihn schon mal gesehen hatte. Ludwig kannten sie, weil sie seinen Vater kannten und schätzten. Dadurch hatte er Narrenfreiheit, ohne es zu wissen. Spüren sollte er es.
Sein Halbbruder Florian war erst neunzehn, aber wusste, was er wollte. Alles. Da er nicht wusste, was alles war, beschloss er erst alles zu sehen, bevor er versuchen würde, sich dessen habhaft zu machen. Er trug ein übergroßes Sweatshirt mit einer Antikriegsbekundung, nicht ganz saubere Turnschuhe in der legendären Basketball-Ausführung, eine übergroße Jeans und hatte eine Sonnenbrille an einer Halskette vor der Brust, was das Gesamtbild eigentümlich erscheinen ließ, wenn man nicht wusste, dass er Skater war. Er stand entspannt neben seinem Vater und hörte interessiert zu.
Arabella, die Tochter aus erster Ehe war eine Erscheinung. Der aufrechte Gang war möglicherweise ihr Markenzeichen. In ihrem Hosenanzug, den sie trug und dabei auf Schmuck, außer zwei schwarzen Perlen als Ohrringe, gänzlich verzichtete, hätte man sie sofort als Bronze gießen können, als Auszeichnung eines Preises, als Kühlerfigur oder als Standbild des guten Geschmacks. Sie sah perfekt aus. Ihr Make-up war akzentuiert, aber nicht aufdringlich. Sie wirkte blass, aber nicht ungesund. Auch Arabella, die neben ihrem älteren Bruder stand und ihn, auch wegen ihrer hohen Absätze, etwas überragte, blieb komplett regungslos und betrachtete, ebenfalls ohne Kopf-, aber mit Augenbewegungen, das etwas rustikale Gespräch, das ihr älterer Bruder, ihr Vater und ihr Anwalt mit der Polizei führten.
Der Delfin ging in sich und wägte ab, bei welcher Person sie am ehesten erfahren würde, ob es nur ein Zufall war, dass das Kaufhaus auch auf der Liste des Täters oder der Täter war und wie die Drohbriefe zu beurteilen seien oder tatsächlich im Haus beurteilt wurden, ohne dass der Senior etwas davon wusste.
„Was sagt denn die Psychologie dazu, Frau Wilderer?“, fragte der Delfin die Tochter des Hauses.
„Wozu? Zu dem Anschlag oder zu den Briefen? Und da Sie leidlich über meine Ausbildung informiert sind, darf ich persönlich ergänzen, dass mein Nachname Hintergruber ist. Dr. Arabella Hintergruber.“
Dr. Berthold mischte sich ein und sagte: „Entschuldigung, das hatte ich bei der Familienvorstellung gerade nicht erwähnt. Frau Hintergruber trägt den Mädchennamen ihrer verstorbenen Mutter seit drei Jahren. Ich habe es selbst beantragt.“
„Muss wohl so sein“, sagte der Delfin. „Der Name Wilderer erscheint mir gemeinhin nicht als besonders alltagsbelastend oder anzüglich. Respekt, dass Sie das durchgekriegt haben.“ Sie wandte sich wieder an Arabella: „Und?“
„Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen in meine Kompetenz und möchte nicht beleidigend erscheinen aber es solle in Bayern genug Psychologen im Polizeidienst oder diesem beratend angeschlossen sein, um Ihre Frage zwar nicht beantworten zu können aber sich dieser Aufgabe, weil sie für einen Auftragnehmer, abhängig vom Budget ein Freibrief ist, viele Jahre zu spekulieren, einzuordnen, abzuwägen und zu beurteilen, liebend gern aufopferungsvoll widmen werden.“
„Anschlag und Briefe; einzeln oder gemeinsam bewerten?“, fragte der Delfin unbeeindruckt von Arabellas Großspurigkeit, als wäre das zuvor Gesagte ohne Belang.
Es hatte etwas von einem Duell und es war eins. Es ging nicht um Kompetenz in dem Duell. Die beiden Frauen bewegten sich in einer angestammten Männerdomäne: Macht. Sie waren vor Publikum, vor den eigenen Fans, die ein Wortgefecht bewerten würden und es als Stärke der einen und Schwäche der anderen auslegen würden. Der Delfin kannte den Ausgang nicht und es war ihr auch herzlich egal, ob sie dadurch einen Statusverlust riskierte. Es gab immer jemanden, der besser sein könnte. Wenn Arabella es wäre, wüsste die Unterlegene zumindest mehr über die Kapazitäten ihrer Kontrahentin und könnte die Situation besser einschätzen. Der Delfin hatte nichts zu verlieren. Wenn Arabella besser, als üblich wäre, müsste die Gesamtsituation neu bewertet werden, weil dann ein hohes Risiko der Ermittlungsbeeinflussung gegeben wäre. Wenn Arabella sofort untertauchte, wäre das eine Nullaussage, die keine Hinweise auf Geschick, Macht oder Unvermögen zuließen. Würde sie sich stellen und auf allen dargebotenen Ebenen reagieren und gewinnen, wäre sie entweder unschlagbar oder würde so viel von sich preisgeben, dass zukünftig auch hier eine Bewertung schneller vonstattenginge. Es ging dem Delfin darum, genau jetzt eine Personenfrage, unabhängig von der Tat an sich, zu klären und eine mögliche Nuss zu knacken, solang die Gelegenheit da war.
„Beweggründe oder Persönlichkeit?“, konterte die Tochter.
„Gibt es einen Unterschied im Ergebnis?“, entgegnete der Delfin.
„Ich mache schwerpunktmäßig Persönlichkeitscoachings für Führungskräfte die ich in Einzel-und Gruppengesprächen durchführe und am Samstag habe ich in London ein Event mit vierhundert Teilnehmern. Sie zahlen einhundertdreißig Pfund – nur um mich zu sehen – jeder!“
„Fein. Also?“
„Also gut, wenn bei keinem anderen der Wutbriefempfänger etwas passiert ist oder noch passiert, gibt es wohl keinen Zusammenhang.“
„Das ist jetzt weder eine psychologische noch kriminalistische Einschätzung, sondern ein wenig Empirie und bestenfalls Bauchgefühl.“ Der Delfin hatte das Gespräch nur formal beendet, mit einem Ergebnis, das zwar immer zu befürchten war, aber unerhofft schnell kam, ohne irgendetwas über Arabella zu erfahren, außer, dass es ihre Entscheidung war, vor dem Delfin schnell einzuknicken. Der Delfin blickte in die Augen einer Frau, die mit keinem Rezeptor ihrer Pupillen noch mit einer Faser ihres Körpers auch nur der Anschein erweckte, gerade einen Rückzieher von der Arroganz oder ein verlorenes Duell verarbeiten zu müssen.
Dem Delfin gingen Urlaubsgedanken durch den Kopf. Sie schloss die Augen: Zehn Jahre später. Sie säße in Venedig auf der Piazza San Marco und Arabella käme vorbei, würde vor ihr stehen bleiben, einen schneeweißen Vierundvierziger Revolver mit verlängertem Lauf ziehen, auf den Delfin zielen, die bei einer Ombra Vino, leichtem Gebäck und Kammermusik in ihrem Lieblingscafé säße. Arabella würde einmal einen Schuss auslösen und weitergehen, während die Musiker weiterspielten, nachdem sie kurz innegehalten hätten.
„Wie sprechen Sie mit meiner Tochter?“, polterte es aus dem Alten hervor. „Soll sie Ihre Arbeit machen?“
Der Delfin öffnete die Augen. Alle waren noch da. Sie blieb ruhig und sagte in freundlichem Ton. „Ihre Tochter ist ein Profi. Vierhundert Menschen dürfen das am Samstag in London erfahren. Ich wollte die Kompetenz Ihrer Tochter nutzen, um auch Ihnen mehr Sicherheit zu verschaffen. Entweder sind Sie einer von vielen, die geschädigt werden oder wurden oder jemand hat es direkt auf Sie oder Ihr Unternehmen abgesehen. Dass jemand gezielt die ›Verunglückung‹ einer Einzelperson hier durch Massenpanik hervorrufen wollte, ist allein aufgrund der Zündungsszwischenzeiträume und den sich daraus ergebenden Entscheidungsmöglichkeiten, hier zumindest auszuschließen. Entweder es ging hier gegen Sie, gegen den Betrieb, gegen das, was Sie vertreten oder um das wie auch immer polarisierte Ausleben und Befriedigung von Reizen, sei es durch Konfrontation oder Kompensation. Nervenkitzel oder um sonst wie das eigene Gemüt zu beruhigen.“
„Warum fragen Sie mich, wenn Sie glauben, es selbst beurteilen zu können?“, sagte Arabella Hintergruber, ohne dass ihre Mimik sich veränderte oder auch nur einen Moment Rückschlüsse zuließ, ob sie tatsächlich an einer Kommunikation interessiert war.
Augenscheinlich und den Aussagen folgend, gab es in der Familie mindestens zwei Parteien, wobei, wenn die eine Partei aus beiden älteren Geschwistern bestehen sollte, die Parteiführung eindeutig bei der Schwester läge.
Gernsheimer fragte wieder den Alten. „Haben Sie Feinde, gibt es Wettbewerber, die Ihnen schaden wollen? Haben Sie irgendeine Idee, wer Sie schädigen wollen könnte?“
„Nichts von alledem“, sagte der Alte „wir sind seit sechzig Jahren hier, fair und freundlich zu Kunden, Nachbarn und Mitarbeitern. All diese neudeutschen Incentives für Mitarbeiter hatten wir schon immer, ohne das an die große Glocke zu hängen. Wir sind hier eine Familie. Klar gib es mal Spannungen und es wird sich gerauft, aber dann wird sich auch wieder zusammengerauft. Hier hat sich niemand etwas vorzuwerfen.“
„Danke für Ihre Zeit“, sagte Peter.
„Denken Sie bitte dran…“
„Ja, Dr. Berthold, Sie erhalten Nachricht, sobald das Gebäude vonseiten der Polizei wieder freigegeben ist, morgen. Feuerwehr und Brandschutz ist Sache Ihrer Mandantschaft.“
Der Alte ging, leicht verstört einige Schritte in der Halle umher. Dann schüttelte er den Kopf, richtete sich auf und schritt nach draußen, gefolgt von seiner Familie und ihrem Anwalt.
„Und? Klüger?“, fragte Peter den Delfin.
„Mit jedem Tag, den ich lebe. Aber ich vergesse mehr. Und wie sieht es bei dir aus?“
„Das ist eine Sackgasse. Es hat nichts mit dem Kaufhaus zu tun. Das Ding war schon immer hier und die Familie ist nett – vergiss nicht, sie haben echt Stress gerade – bis langweilig. Das war Zufall, weil der Ort gerade zu der geplanten Aktion passte.“
„Oder die Täterschaft hat die Aktion für diesen Ort geplant, wie für jeden anderen Ort auf deiner Verbrechensliste“, sagte der Delfin.
„Schau dir die Liste an. Wenn du zu einem der Tatorte möchtest, melde dich. Wir gehen jetzt zu den Kollegen, die Angestellte und Kunden befragen, dann sprechen wir mit unseren Videoleuten und schauen, ob sie das Material der Überwachungskameras verbessern konnten. Keine einzige HD-Kamera im ganzen Haus und die Aufnahmeleistung ist ein Bild pro Sekunde in Schwarz-weiß. Mittelalter, wie der Bodenbelag hier. Vielleicht holt Krümel zumindest etwas Schärfe raus oder bringt sie rein.“
„Ist das die Kamera für diesen Bereich?“, fragte der Delfin und wies auf eine unter der abgehängten Decke der Galerie der Halle angebrachte, dunkle Halbkugel.
„Ja“, sagte Peter.
„Wer auch immer das war, kannte sich hier aus. Achtet auf unterschiedliche Typen beim Vergleich der Kameradaten. Wenn jemand die Bomben nicht nachts platziert hat oder lange bevor sie hochgingen, was zumindest beim Abfalleimer unwahrscheinlich ist, kann es sein, dass ihr eine Person die hier war, auf den Bildern am Ausgang nicht mehr erkennt, weil sie sich umgezogen oder verkleidet hat.“
„Wir brachen etwas Handfestes“, sagte Peter.
„Drei Bomben! Wenn das nicht handfest war“, sagte der Delfin.
„Was meinst du?“
„Die tatausübende Person …“
„Der Täter!“
„Hoffentlich war es ein Mann. – Jedenfalls das ganze Gebilde, die Tränengasbombe mit Gas, Zünder, Timer oder Fernzünder und einem Selbstzerstörer mit dem Brandsatz, sieht mir mehr nach Arbeit als nach Hobby aus. Effekt, Eindruck schinden und doch die Spuren geradezu demonstrativ verwischen.“
„Wie meinst du das?“, fragte Peter.
„Da spielt jemand mit euch. Ich weiß nur nicht, ob es ›Katz und Maus‹ oder ›Fang den Hut‹ ist.“
„Super!“, rief Peter. „Jetzt können wir den Mist auch noch sportlich betrachten und ich muss gleich wieder ins Rathaus und schwören, dass die Wiesn sicher sein wird. So sicher wie die Renten; verdammt noch mal. Es gibt keine absolute Sicherheit. Also soll dann zumindest keiner verantwortlich gemacht werden können. Außer vielleicht ich. Herrje, mach´s gut, Delfin. Danke dass du da warst“, sagte Peter, streichelte kurz über ihre Schulter, tätschelte etwas länger den Hund und ging nach draußen, in die frische Luft.
Blech folgte ihm schweigend und nickte dem Delfin nur kurz zu. Seine anfängliche Redseligkeit war verschwunden.
„Mobbel, komm!“
Der Delfin ging über den rückwärtigen Ausgang nach draußen.