Der Delfin - mörderische Panik
Kapitel 3

Die Eiche
Der Blick in die Ferne muss nicht sehnsuchtsvoll sein. – Geeignet, die Beziehung zum Heute und dem Ich zu festigen.
„Ciao, Delfina“, rief er mit noch leicht müder und rauchiger Stimme einer arbeitsreichen Nacht.
„Ciao Franco.“
Man kannte sich im erweiterten Viertel und man wusste, was man aneinander hatte. Bei gutem Wetter saß der Delfin häufiger bei Franco. Es ist urban. Die Menschen schlendern oder eilen vorbei. Nach Hause, zur Tramstation, zum Viktualienmarkt. Fußgänger gab es hier reichlich und wenn sie da saß, zogen sie an einem vorbei, beladen mit Einkäufen oder Gedanken.
Es war früher Nachmittag. Das war ihre Zeit für ihr Stammlokal, eine Tradition, die sie gerne pflegte in den Zeiten der Veränderungen. Stammkneipe würde es falsch beschreiben. Zweites Wohnzimmer, auf ihre Person bezogen, genauso, denn sie war da nicht zu Hause, sondern sie war Gast und liebte es, Gast zu sein.
Die „Deutsche Eiche“ ist keine Kneipe. Sie ist ein Hotel, ein auch bürgerliches Gasthausrestaurant, eine Rooftop-Bar und eines der größten Männer-Badehäuser der Welt, zumindest einer der bekanntesten. So ist es dann auch, dass man im Restaurant eine Currywurst auf der klassisch sortierten bayrischen Gasthauskarte, die auch einige internationale Gerichte hat, neben Schweinebraten und Schnitzel, Salat und Käsespätzle, eine Currywurst aufgeführt ist, die den verschmitzten, dennoch zartverruchten Namen ›Der längste Lümmel der Stadt‹ trägt, findet. Eine Reminiszenz an die Freiheitskämpfe vergangener Jahre, in denen sexuelle Diversität nicht nur nicht erwünscht war, sondern auch bestraft wurde.
Häufig dachte der Delfin an den Wandel der Zeit und den Wandel von Volkes Meinung. Für die einen verrucht und falsch sexuell, für die anderen ein Hotspot der Freiheit und Exzentrizität, allein, weil es eine Definition von ›anders‹ gab und es nicht gleichbedeutend mit ›falsch‹ oder ›allein‹ war. Nicht erst seit Rainer Werner Fassbinder hier gewohnt, geliebt und gedreht hatte und auch Freddy Mercury in seiner Münchner Zeit und danach Stammgast war, folgten weitere Prominente aus allen Szenen der Kultur.
Dietmar Holzapfel, der Patron des Hauses, neben seinem Mann und ihrem gemeinsamen Sohn, weiß ein Lied davon zu singen und er macht ausführlich auf seinen kostenlosen Führungen durch die Deutsche Eiche darauf aufmerksam, dass die Zeiten für die schwul-lesbische Community nie ganz normal waren. Die Führungen macht er gern. Der Delfin trifft Dietmar oft, wenn dieser mit einer Gruppe hoch auf die Dachterrasse kommt und es immer schafft, die Probleme der Vergangenheit und die Geschichte des Hauses mit dem grandiosen Ausblick über München unterhaltsam und informativ zu verbinden.
„Hallo Delfin, du bist früh. Stefan ist schon da.“, sagte Pierre am Empfang des Hotels, der auch der Eingang zum Badehaus ist. Pierres Freundlichkeit und gutes Benehmen standen dem perfekt frisierten, leicht rötlichem Wuschelkopf ins Gesicht geschrieben. Es war diese ehrliche Freundlichkeit, die es nur gibt, wenn auch das Interesse an anderen Menschen vorhanden war. Im Hauptberuf hatte Pierre mehr mit Datenströmen zu tun und sah seine Tätigkeit in der Eiche als Kontrapunkt zu seinem guten Job, den er nach seinem Studium von Bits, Bites und Codes hatte.
Der Delfin fuhr mit Mobbel im Fahrstuhl zur Dachterrasse und war etwas froh, dass gerade keine anderen Personen mit im Fahrstuhl waren. Mobbel füllte ihn zwar längst nicht aus, war aber, seitdem sie den Viktualienmarkt über die Frauenstraße verlassen hatten und formal nicht mehr im innersten Stadtbereich waren, nicht mehr angeleint, was bei dem Hund sowohl vom Kräfteverhältnis als auch vom Halsdurchmesser ohnehin einer Farce nahekam, ihn halten zu wollen. Der Hund war beeindruckend.
Sie hatte schon eine Ahnung. Die Luft schmeckte klar und strömte draußen nicht als Wind, wie Hauptkommissar Hendrik Blech zuvor festzustellen wusste, sondern als Sog. Im Prinzip war es das Gleiche, doch im Detail völlig anders. Föhn. Sie konnte von der Dachterrasse heute den gesamten Alpenrand sehen. Nicht nur der Wendelstein auch das Wettersteingebirge mit der Zugspitze waren zum Greifen nahe; daneben und rückwärtig auch die weißen Spitzen des Karwendelgebirges. Der nicht ganz seltene aber immer wieder berauschende Ausblick war ein Grund zum Genießen.
Stefan, der Barkeeper wusste das und begrüßte den Delfin, nachdem er das, ihr Schönwetter-Bier abgestellt und dem Hund ein, bis gefühlt zehn Leckerlis gegeben hatte. Normalerweise trank der Delfin Cappuccino, aber bei Bergsicht zischte ein Helles einfach besser. Die Aussicht erwärmte, wie die Freundlichkeit.
„Und, wie siehts aus?“, fragte Stefan, „Kommt deine Polizeieskorte gleich noch?“
„Die waren schon da.“
„Dann scheint es diesmal dringend zu sein.“
„Ja und Nein, sie wissen es nicht. Es ist kein Einzelfall.“
„Hintergruber?“, fragte Stefan. „Der Idiot aus dem Kaufhaus gestern Abend?“
„Wie kommst Du darauf?“
„Du hast doch immer eigentümliche Fälle und dass das gestern kein Jux von Teenagern war, ist auch klar. Stammkunden haben gestern Abend erzählt, dass an drei Stellen gleichzeitig Tränengas versprüht wurde oder hochgegangen ist. Das macht keiner ohne Grund.“
„Es war nicht gleichzeitig“, sagte sie. Es war so, dass nach der ersten Zündung die Menschen erst in zwei Richtungen geflohen sind, noch geordnet und dann, nachdem einige raus waren und es geschafft hatten, die beiden anderen Tränengasgranaten gezündet würden.“
„Zeitzünder?“
„Wahrscheinlich, sie untersuchen gerade die Reste. Ich glaube nicht, dass jemand mit unterschiedlich langen Zündschnüren experimentiert hat. Entweder so etwas, wie eine mechanisch-chemische Zündung, wie bei einem Bleistiftzünder oder elektromechanisch mit Zeitschaltung oder sogar Fernzündungen. Dann müssten wir so etwas, wie ein Uhrwerk finden oder einen Akku den kann man zwar auch unkenntlich machen, aber Krümel und Schleuder werden es nachweisen.“
„Die beiden waren eine Weile nicht hier“, sagte Stefan.
„Die haben mit ihrer neuen Laboreinrichtung zu tun und sind viel zu aufgeregt vor Vorfreude.“
„Wieso sind die Teile unkenntlich?“
„Die Bomben waren in einem Brandsatz aus Magnesiumpulver und Magnesiumgehäuse oder -hülle untergebracht. Alles ist verbrannt und geschmolzen.“
„Überwachungskameras! Von allein werden die Dinger da nicht hingekommen sein.“
„Werden heute ausgewertet. Die Polizei hatte diese Nacht genug mit der Feststellung der Personalien zu tun. Das Kaufhaus war proppevoll.“
„Das wäre in Coronazeiten nicht passiert“, sagte Stefan, während er immer noch den Hund streichelte, der sich dicht an ihn drückte. „Genieße die Aussicht!“
Die Gespräche mit Stefan taten gut. Der Delfin konnte gedanklich runterkommen und sortieren, analysieren, aufräumen.
Es war vertrackt. Kein erkennbares Motiv. Professionelle, durchdachte Arbeit, sofern man nur vom Ergebnis spräche, die aussah, als wäre es eine Auftragsleistung. Dennoch wurde nur Panik bei Menschen ausgelöst, die der Täter unmöglich vorher hatte auswählen können. Es sind grundlos Menschen gestorben und verletzt worden. Wer plante so etwas, baute es und setzte es um? Warum? Rache? Eine Demonstration der eigenen Fähigkeit? – Dann hätte die Täterschaft es auch unblutig oder noch blutiger bewerkstelligen können. Warum das Spiel mit der Panik der anderen? – Denn nichts anderes war es; das kalkulierte Aufschaukeln einer tatsächlich ungefährlichen Situation bis zu ihrem von den Opfern selbst ausgelösten, tödlichen Finale.
Der Delfin startete ihr kleines Notepad und loggte sich bei der Landespolizei auf ihrem Account ein. Es waren neue Bilder und Namen bei der Personenerfassung und den Überwachungskameras hinzugekommen. Nichts Verdächtiges bei den Bildern der Überwachungskameras kurz vor und bei dem Anschlag. Menschen beim Einkaufen und Bummeln. Einige Kapuzenshirts aber die Gesichter waren einigermaßen gut zu erkennen. Einige trugen Sonnenbrillen. Die trug der Delfin auch, selbst in Gebäuden. Der Delfin sah sich alle Fälle an, einen nach dem anderen. Sie suchte nicht nach Mustern. Sie suchte überhaupt nichts; sie ließ die einzelnen Fälle nur auf sich wirken und sah sich die Profile von geschädigten, Beteiligten und Zeugen an.
Die Stimmung auf der Terrasse wurde aufgeregter, ohne, dass es auf der Terrasse selbst aufgeregt war. Es strömte aus dem Fahrstuhl. Die Tür öffnete sich und Dietmar Holzapfel, der Patron, kam mit seinem Dackel Tino bestens gelaunt nach draußen, breitete die Arme aus und rief: „Über den Dächern von München, mit Blick bis zu den Alpen. Heute ist es besonders schön.“ Dann senkte er seine Stimme und sagte, „Grüß Dich, Delfin.“
„Hallo Dietmar.“
„Tino, geh zum Delfin und Mobbel.“ Tino kam angedackelt und Stefan brachte auch ihm Leckerlis, was der Hund als willkommene Selbstverständlichkeit goutierte.
Nun war klar, warum Aufregung in der Luft war. Dietmar führte, wie fast täglich eine Gruppe Touristen durch sein Ensemble. Es gibt auch regelmäßige und unregelmäßige Stadtrundgänge, die einen Abstecher in die Deutsche Eiche machen aber Dietmar führt gerne auch selbst Gruppen herum und erzählt Anekdoten, wie er auch ernste Themen anspricht, in seinen Geschichten über das Haus und seine Historie.
Der Delfin saß da und war mit sich im Reinen. Sie war professionell, energisch, ambitioniert, aber auch das Scheitern war eine Option, die sie nicht ausschließen konnte. Wer auch immer diesen Anschlag in ihrer entfernten Nachbarschaft verübt hatte und wer auch immer die anderen Anschläge verübt hatte, war nicht mit sich im Reinen – ganz gleichgültig, ob jemand ein rational begründbares Motiv hatte oder nicht. Das machte die Arbeit des Delfins für sie so leicht und angenehm. Sie war schon auf der Seite der Opfer, was auch seine Tücken und Risiken hatte. Sie war auch nicht zwingend auf Vergeltung und sei es durch gerechte staatliche Bestrafung von Verbrechen aus. Der Delfin tourte ihre Maschine hoch, wenn es um Wiederholungstäter ging und weitere Taten, weiteres Leid, weitere Angst verhindert werden konnten. Sie war nicht der Typ, der nur versuchte, in Akten Details zu finden. – Das konnten andere besser und schneller als sie. Sie war weder begnadet in den richtigen Fragen, noch im Finden der richtigen Antworten. Auch als Profiler war sie ungeeignet, genauso, wie als Einzelkämpfer. Aber sie kämpfte und ihr Gegner würde es nicht leichter haben, als zuvor. Sie vermochte Störungen in Systemen, im Verhalten und in herausposaunten Zielen wahrzunehmen und zu lokalisieren. An dem Satz, dass wer lüge ein gutes Gedächtnis bräuchte, war etwas vereinfacht Wahres dran. Tatsächlich war es aber so, dass dann der Spielraum so eingeschränkt wäre, wie die Wahrheit, die von anderen bezeugt werden könnte, es zuließe. Das machte es spannend für den Delfin, denn bei Serientätern wäre die Perfektion eines geführten Doppellebens erstrebenswert, doch immer bliebe sie unerreicht.
Diese Kerben und Brüche suchte der Delfin um sie zu erweitern und die Sturzgefahr des Baumes zu erhöhen. Es könnte auch Zufall, Glück oder ein heftiger Sturm sein, der sie ins Spiel brächte, aber wenn sie dran war, ließ sie nicht mehr ab.
Das Herunterkommen so wie hier oben auf dem Dach oder beim Umtopfen war wichtig für sie. Prozesse wurden unterbrochen, um gleich oder anders fortgesetzt zu werden. So grausam es auch wäre, wenn am morgigen Tag wieder Menschen wieder in einem Kaufhaus durch denselben Täter ums Leben kämen; sie konnte es jetzt noch nicht verhindern und Aktionismus wäre hinderlich bei ihrer Methode.