Das Licht von Dragomar

Leseproben

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Krautwedel is watching you

PROLOG

 

 

Von Ehre verlassen,

die Macht der Magie

bereit für den Einen

der stärker als sie.

 

Der Zauber ist stark

in dem der ihn trägt

als Freund und Gefährten

der Gutes bewegt.

 

Den Zauber zu nutzen

als sein letztes Schwert

die Schwachen zu schützen

der Magie eigner Wert.

 

 

Dragomar war der uralte Name des Berges, der auch der Insel, aus der er sich erhob, ihren Namen gab. Der Berg war nicht der höchste in der Antarktis. Er war nicht mit einer hohen Eisschicht bedeckt, wie die anderen Landmassen. Die schroff von Falten zerklüfteten, grauen Wände von Dragomar stiegen direkt aus dem Eismeer empor. Der Berg reckte sich wie eine breite, ausgestreckte Klaue aus dem Ozean nach dem Himmel, in dem Wissen, beispiellos zu sein. Jahrtausende war Dragomar Teil von einer größeren Idee, die Festung und Schönheit für die Einwohner und die Region war. Eine vergessene Kultur, die durch Naturereignisse und Kriege unterging. Viele Legenden beschrieben die Insel und das Volk, das dort einst lebte. Es waren die Drachen des Eises, die einst eine Kultur aufbauten und schützten.

 

Eine dieser Legenden, die Älteste von allen, war ›Dragomar Gnorth‹. Sie entsprang so frühzeitlicher Überlieferung, dass es keine einheitliche Fassung gab. Es waren Bruchstücke, die für sich betrachtet, keine Geschichte erzählten und, wahllos zusammengefügt, nur schwer einen Sinn ergaben. Es war eine Legende von Drachen und Ungeheuern, von Zauber und Zerstörung, von Ritualen und Macht. Allein das Drachenlied war ein kurzer, nahezu zusammenhängender Text. Auch Helden gab es in den Fragmenten der historischen Überlieferung. Es gab einen Ort: Dragomar, an dem alles geschah und an dem verschiedene Kulturen, viele Jahrtausende später, ihre Blütezeiten und ihren Untergang erfuhren. Die ganze Wahrheit über Dragomar kannten nur wenige aus den späteren Epochen. Ihr Wissen war mit ihnen untergegangen. Sie selbst lebten im Zeitalter der Meister, dem Goldenen Zeitalter, das fünftausend Jahre Bestand hatte und dessen Blütezeit erst einhundert Jahre zurücklag. Auf dem Höhepunkt seiner Schönheit wurde das Reich zerstört und die Überlebenden seien alle geflohen, so sagte man. Aus dieser Zeit gab es viele Geschichten und einige seltene Dokumente aus der zerstörten Bibliothek. Legenden und Mythen gab es ebenso aus dieser Zeit. Das Zeitalter der Meister war trotz aller irdischen und erklärbaren Geschichten, ein Zeitalter der Zauberei. Die Magie wurde nutzbringend eingesetzt. Sie war Teil des Alltags und der nicht erklärbaren Dinge in den überlieferten Geschichten. Es waren Geschichten über Reichtum, Edelmut, Zauberei und episch vorgetragenen Schlachten. Nach dem Untergang des Reiches vermieden die Einwohner der Antarktis, die Insel zu betreten. Sie glaubten, ein Fluch läge auf der Insel und dass jeder, der dort hinginge, seinen eigenen Untergang heraufbeschwöre.

Seit einigen Jahrzehnten, sagte man, sei Dragomar wieder bewohnt. Es wurde von ›Verrückten‹ gesprochen, die kein vernünftiges Zuhause hätten, von todesmutigen ›Abenteurern‹, von ›Verbrechern‹, die keiner wollte. Tatsächlich waren es nicht viele, die für die Hoffnung auf den Frieden und die Schönheit der vergangenen Tage – in neuen Zeiten – kämpften und arbeiteten. Wenige kannten Dragomar noch aus den goldenen Zeiten. Niemand wusste, wie alt sie wirklich waren. Keiner kannte ihre Geheimnisse. Sie waren Legenden, obwohl sie nicht erkannt wurden. Sie waren da, ihr Werk zu vollenden, um im Reinen zu gehen. Für den Fortbestand würden nachfolgende Generationen sich verantwortlich zeichnen.

 

Eremides und Galbohei standen zweitausend Meter über dem Abgrund auf einer Terrasse, auf dem von Höhlen durchzogenen Berg. Sie beobachteten den Abendhimmel, dessen Licht sich in tausendfacher Form, auf Wellenkämmen und karstigem Eis des Eismeeres spiegelte.

»Es ist jedes Mal wieder beeindruckend.«

»Wahrhaftig, in ständiger Veränderung. Wie das Leben, in einem beruhigenden Bild eingefangen, in dem das Licht sich wie Wind und Wellen bewegt und der Gefangenschaft des Augenblicks in einem Hauch entzieht.«

»Sanft und kraftvoll. Genauso würde ich Hoffnung malen.« Galbohei schöpfte gedankenschwer Luft, den Moment festhaltend. Mit einem Seufzen atmete er aus, bevor Eremides ihm entgegnete: »Hoffnung? Sie ist ein gefährlicher Begleiter, solange es gestaltbare Möglichkeiten gibt und diese ungenutzt bleiben. Verharren in Hoffnung – auf was oder wen auch immer.«

»Oder etwas, das uns selbst die Kraft gibt, weiterzumachen. Ein Lichtblick. Ein Trost.« Galbohei versuchte das Leuchten am Himmel als ein Zeichen zu werten. Das Licht, helfend in der eigenen Sache. Gebannt verfolgte er mit seinem Auge die Lichtschweife, die ständig neue Bilder erzeugten.

»Das ist nur das grüne Wetterleuchten am Nachthimmel«, polterte Eremides. »Es ist nicht von langer Dauer. Du kannst dich daran nicht festhalten. Kleine Teilchen haben keinen Nutzen für uns. Es hilft dir nicht, außer bei Dunkelheit.«

Eremides hätte gern das Schauspiel am Himmel genossen, ohne dass die Gedanken an vergangene und zukünftige Schlachten die selbstlose Schönheit und Vergänglichkeit des Augenblicks zerstörten.

»Hoffst du auf Frieden, oder auf den Sieg?« Galbohei erinnerte sich an alle Auseinandersetzungen früherer Tage und die Härte ihrer Gegner. »Kann es Frieden geben, außer, dass wir gewinnen? Wahrscheinlich nicht.«

»Wir müssen uns damit abfinden, dass Hoffnung auf Frieden allein unser Untergang wäre«, knurrte Eremides.

»Warum?«

»Du hast es gesagt. Unsere Feinde wollen keinen Frieden. Nur wir sind in der Lage zu verhindern, dass ihre Gier und ihr Wahn uns nicht alle unterjochen. Sie kennen weder ein Nebeneinander, noch ein Füreinander. Tröste dich, Galbohei. Wir haben in längst vergangenen Tagen andere Probleme gelöst. In den Jahren, die uns beide verbinden, hatten wir Zeiten der Ruhe und des Sturms, der Freude und der Trauer.«

»Es ist ausweglos. Wir stehen mit dem Rücken an der Wand. Die Last der Vergangenheit scheint auf die Lasten der Gegenwart und Zukunft zu warten. Wir können nur hoffen − oder wir könnten fliehen; wir könnten alles, was wir geschaffen haben, selbst zerstören, um unsere Feinde nicht zusätzlich zu stärken. Wir könnten wieder im Untergrund, heimlich, einen späteren Aufstand vorbereiten − oder warten – versteckt und getarnt warten.«

»Warten? Worauf? Zerstören, obwohl wir aufbauen? Den Brunnen vergiften, der allen gehört? Fliehen? Wohin?« Eremides erwartete nicht, dass Galbohei eine einzige Frage zu beantworten in der Lage sei. Er würde alles infrage stellen, wofür er selbst sein ganzes Leben einstand, was ihn ausmachte, egal, in welcher Gestalt, er dennoch unverkennbar war. Galbohei lebte den Krieger in sich und nichts würde das ändern.

»Zumindest wären wir wie unsichtbar und könnten versuchen, Gleichgesinnte für unsere Sache zu gewinnen.«

Die Kämpfe der Vergangenheit hatten jeden Knochen von Galboheis Körpers geschunden. Es sollte nicht erneut zu einem Sieg kommen, der keiner sein würde. Der Gedanke, sich zurückzuziehen und in Ruhe seinen Lebensabend zu verbringen, an einem Ort, den es nicht zu verteidigen gäbe, kam ihm vermehrt in den Sinn.

»Ausweglos ist ein endgültiges Wort für eine Lage, die wir gestalten können. Die Wand im Rücken, von der du sprichst, ist kein versperrter Fluchtweg. Sie ist die Wand, die uns stützt«, sagte Eremides. Er wischte streichelnd mit der Flosse über den rauen Fels des Berges, wie bei einem treuen Pferd, um es aufzumuntern, das nächste Etappenziel der Reise zu erreichen.

»Und dann sind da die Menschen, die sich unachtsam in der ganzen Welt verbreiten. Ich mag sie nicht − nicht mehr«, raunte Galbohei tiefgründig.

»Wie bitte?«

»Ist doch wahr! Es hat sich nichts geändert. Nicht einmal früher hatten wir vor ihnen Ruhe.«

Sie schauten sich an. Beide zogen fragend die Schultern in die Höhe, drehten ihre Schnäbel wieder nach vorn und lachten. Die Last der Probleme auf ihren Rücken war für einen Moment nicht gewichtig.

»Galbohei, erinnere dich bitte! Auch die Menschen sind Teil des Ganzen. Du weißt es besser, ebenso wie ich.«

»Hört, hört! Da spricht der weise und verehrte König vergangener Tage, der sich neuerdings Eremides nennen lässt«, sagte Galbohei mit breitem, allzu menschlichem Grinsen.

»Wenn ich dich jetzt ›Fnordakyr, Gatt pertyrp! Akyr dzotb Akyr!‹, riefe, hättest du ziemlich Fracksausen unter deinem Pinguinkittel – dann käme alles wieder hoch«, flüsterte Galbohei herausfordernd.

Eremides reagierte nicht. Die uralten Ehrenbezeugungen hatten keine Bedeutung für ihn. Noch nie. Er selbst hatte für die Abschaffung von Sonderrechten gekämpft, obwohl er den höchsten Stand hatte, der im goldenen Zeitalter zu erlangen war. Es hatte lediglich bewirkt, dass diejenigen, die sich aufwerten wollten, einen schleichenden Krieg entfachten, der schließlich im Untergang gipfelte. Er war nicht darauf aus, das Vergangene, mit allen Strukturen, wieder aufzubauen. Eremides tat das, was er immer tat. Er vertraute auf den verantwortungsvollen Umgang mit der Macht, ganz gleich, wer sie innehatte – in welchem Umfeld oder welchem Zufall sie entsprang.

Sie standen wieder schweigend nebeneinander auf der Terrasse, hoch oben am Berg und betrachteten das Farbenspiel am Nachthimmel. Sie hörten den Wind und vereinzelt das knackende Brechen von Eisschollen, die sich im Ozean vor ihnen übereinander türmten. Die Wellen, die wiederkehrend an den Felsen tosend brandeten, waren oben am Berg ein leises Rauschen, begleitetet von dem frischen Geruch des Meeres.

»Werden wir gewinnen?«, fragte Galbohei, ohne den Blick vom Himmelsleuchten abzuwenden.

»Wir sind im Vorteil«, antwortete Eremides. »Wir kennen den Wert der Freiheit und wollen sie nicht verlieren. Wir kennen Freundschaft und werden sie nicht aufgeben. Wir kennen die Liebe und wollen weiter lieben können.«

»Es sind viele. Sie sind besser bewaffnet, an Land sind sie uneinholbar im Vorteil und sie nutzen Zauberei.«

»Uneinholbar? Das Wort hättest du früher niemals in den Mund genommen. Du hättest dir eher die Zunge abgebissen. Wir bereiten uns vor und wir werden mehr.«

»Und wenn ihr Zauber größer wird? Unsere alte Kraft ist für immer erloschen. Von der Kraft blieb fast nichts übrig.«

»Möglich, aber ein kleiner Zauber, zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort, kann mehr bewirken, als rohe Gewalt. Was die Zauberei anbelangt, ist noch nichts entschieden. Wir wissen nicht, ob wir es aus eigener Kraft schaffen können, den Zauber zurückzuholen. Es könnte sogar ein Zeichen der Zukunft auch gleichsam ein Zeichen der Kraft und Schönheit aus fast vergessener Vergangenheit sein.«

»Du vertraust auf Eccintes?«, raunte Galbohei ungläubig. Er hoffte auch, dass eine neue Generation neuen Schwung bringen würde. Den Brückenschlag zur Vergangenheit hielt er aber für weit hergeholt.

»Eccintes ist der Name, den seine Mutter dem Ei gab, bevor sie starb.« Eremides räusperte sich, als wolle er etwas abschütteln, das ihm so nahe ging, dass er es loswerden müsse, um es zu schützen. »Er ist mein Fleisch und Blut. Mein Enkel. Der Sohn meiner Tochter, die ich geliebt habe; der Sohn meines Schwiegersohnes, dessen Anstand über allem erhaben war. Eccintes ist noch jung. Niemand kann vorhersagen, welchen Weg er einschlagen und welche Fähigkeiten er entwickeln wird. Er ist weit weg von hier. In Sicherheit – zumindest vorerst. Es wäre töricht, wenn wir all unsere Hoffnungen auf einen jungen Pinguin setzten. Nein, mein alter Weggefährte, das müssen wir, ein letztes Mal, in die eigenen Flossen und Flügel nehmen. Nenne es unser Vermächtnis an diejenigen, die uns nachfolgen werden, um alles zu erhalten.«

Eremides drehte den Kopf zur Seite. Er schaute den prächtigen Albatros, der von Narben gezeichnet war, und ein Auge in einer früheren Schlacht verloren hatte, direkt an. Die Augen von Eremides funkelten, wie das bewegte Glitzern der Abendsonne auf den Wellenbergen des Ozeans. Er hatte den Schnabel gesenkt und sah seinem Freund, über das Gestell seiner Brille hinweg, ins Gesicht und lächelte. Mit einer kurzen Bewegung aus der Flosse erschien eine zarte, weiße Flamme in Eremides´ Flosse. Er streckte die Flosse in dir Höhe, erhellte Galboheis Gesicht und löschte die Flamme wieder, wie er sie hatte erscheinen lassen.

»Deine Augenhöhle ist gut verheilt.«

»Wurde auch Zeit. Nach siebzehn Jahren, trotz der blauen Schwämme. Früher hätte es ein paar Stunden gedauert. Wir sind in die Jahre gekommen«, bemerkte Galbohei. Sein Alter blieb sein bestes Argument, sich nicht mehr wehren wollen zu müssen, sondern sein Recht auf Ruhe einzufordern.

»Wie geht es deinem Sohn? Er müsste fast erwachsen sein. Er war eine Weile nicht auf der Insel.«, fragte Eremides, obwohl er es besser wusste.

Der Sohn Galboheis war bereits ein Vertreter der jungen Generation, die für die gemeinsame Sache arbeitete und kämpfte. Eremides log, um seinen Freund auf andere Gedanken zu bringen, die nichts mit Alter und Krieg, sondern mit einer nicht geschriebenen Zukunft zu tun hatten.

»Erwachsen? Groß gewachsen ist er«, sagte Galbohei. »Er ist größer als ich, aber leichter«. Lachend schlug er mit dem Flügel auf seinen rundlichen Bauch. »Er ist viel unterwegs. Ein richtiger Langstreckenflieger – wie ich früher, bis ich seine Mutter kennen lernte. Ich sehe ihn selten. Wenn er einmal hier ist, unternimmt er was mit seinen Freunden. Wenn ich ihn frage, was er den ganzen Tag über anstellt, erzählt er, dass er viel fliegt und außerhalb esse und wir nicht mit dem Essen auf ihn warten sollen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, dass er einer Arbeit mit Überstunden und Nachtschichten nachgeht. Er ist ein guter Junge und als Nesthäkchen der Liebling seiner Mutter. Dieses Jahr plant er, eine Familie zu gründen. Eine Freundin hat er noch nicht, soweit ich im Bild bin. Möglicherweise weiß seine Mutter mehr. Aber die beiden halten dicht.«

»Ja, ja. Es geht immer weiter und immer weiter. Was zerstört ist, wird wieder aufgebaut und selbst in den sorgenvollsten Zeiten gibt es zuweilen Momente des Glücks«, brummte Eremides.

»Der Verlust von Frau und Kindern ist ungerecht«, murmelte Galbohei und schloss kurz das wachsame Auge, das ihm geblieben war. »Ich habe meine Galboheia glücklicherweise erst viel später kennengelernt und mein Sohn hat noch gar keinen Krieg miterlebt. Ich hoffte, es würde so bleiben. Wenn wir beide – du und ich – unsere alte Zauberkraft hätten, würden wir alleine mit ihnen fertig werden.«

Galbohei riss seinen Schnabel auf und hauchte einen weißen Nebel aus. Gleich danach einen druckvollen Strahl Wasser, der im Nebel sofort gefror, als hunderte kleine Eiszapfen aus dem Nebel herausgeschossen kam, die an der Felswand zerschellten. »Das ist lächerlich!«, schimpfte er. »Da kann ich ja gleich eine Möwe aus der Krone zaubern. Irgendwie ist es demütigend, was aus uns geworden ist.«

»Wenn wir unsere alten Kräfte wieder erhielten, wäre es bei unserem Feind genauso. Wir müssen achtsam sein, nicht noch einmal alles zu zerstören«, sagte Eremides.

»Niederlage ist Niederlage. Ich würde das Risiko eingehen«, wetterte der alte Draufgänger Galbohei.

»Ich gehe wieder rein. Señor Machete wollte irgendetwas mit mir in der Bibliothek besprechen. Fliegst du noch deine Abendrunde?«

»Wie jeden Abend. Wenn es dunkel ist, kann ich Feuer und Blitze besser erkennen. Die letzten Wochen war es ruhig«, sagte Galbohei. »Vielleicht haben sie es sich anders überlegt und es gibt keinen Angriff.«

»Sie werden angreifen. Noch sind sie uns hier am Berg unterlegen. Das wissen sie. Gute Nacht mein Freund.«

»Gute Nacht, Eremides«, sagte der Albatros. »Gib acht vor Machete, er ist scheußlich erkältet und schlecht gelaunt.«

»Wann ist er das nicht? Er hat sich in all den Jahren nicht an das Klima gewöhnt. Wie auch. Das drückt seine Stimmung. Er ist gern Bibliothekar. Es sind immer Personen um ihn herum und dennoch ist er einsam. Hast du ihn schon Schlittschuhlaufen gesehen?«

»Das lass ich mir doch nicht entgehen. Er ist großartig. Jeden Freitag, bei der Orchesterprobe, sehe ich es mir an. Er tanzt auf dem Eis, als gäbe es nichts um ihn herum, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es gibt nur den Moment für ihn und für diejenigen, die ihn tanzen sehen. – Das hat aber nichts mit seinem Schnupfen zu tun. Eremides, ich habe dich gewarnt. Da ist eine Grippe im Anflug. Wenn sie da ist, bekommt Machete sie ganz sicher, auch weil er nie an die frische Luft geht. Na ja, es ist auch nicht sein Lieblingsklima hier. Apropos Anflug. Ich mach jetzt einen Abflug.«

Galbohei ging nach vorne, in Richtung der steilen Felswand. Er stellte sich auf die flache Brüstung aus Fels und sprang mit einem Satz, bei angelegten Flügeln, von der Terrasse in die Tiefe.

»Jippiiiiiiiiiieh!« Zweitausend Meter freier Fall. Kopfüber sauste er an der gerade abfallenden Bergwand entlang. Er war im Rausch der Geschwindigkeit. Der Ozean mit seinen Wellen und Eisschollen kam immer näher. Galbohei schloss das Auge und zählte von fünf rückwärts. »… drei, zwei, eins, los!« Im Sturzflug öffnete er, kurz bevor er auf dem Wasser aufschlagen würde, die Flügel. Er schlug mit ihnen kraftvoll auf und ab, bis er wieder an Höhe gewonnen hatte, und flog im Gleitflug über das Eismeer. Eremides sah Galbohei im vom Polarlicht beleuchteten Nachthimmel weggleiten. Mühelos flog er da mit seinen riesigen Schwingen.

»Immer noch ein Kindskopf«, murmelte Eremides. Er schob sich das Notizbuch, das neben ihm auf einer Seemannskiste lag, unter die Flosse, ergriff die Schreibfeder und das Tintenfass und ging zurück in den Berg, in dem er geboren war.

Er war ihm lange ferngeblieben und würde hier irgendwann seine letzte Ruhe finden, nachdem er Dragomar zu dem gemacht hätte, was es immer sein sollte: Ein Ort des gemeinsamen Vertrauens auf die Zukunft und ein Zufluchtsort für diejenigen, denen die Hoffnung auf Zukunft durch das Schicksal verwehrt war.

Es war der Abend vor dem Tage, an dem sich das Schicksal wieder einmal in der Geschichte von Dragomar verirren sollte. Es kam, wie es immer kam. Ohne Anmeldung und ohne Warnung. Es war weder gut noch böse. Keine Prüfung, der man durch Verhandlung oder Krankheit entfliehen konnte. Es urteilte nicht und kannte weder Liebe noch Hass. Es gab auch keine Garantie, dass sich das Schicksal erfüllen würde. Das Schicksal war immer ein Gefährte von Dragomar. Ob es zu beeinflussen war, wusste auch Eremides nicht. Er vertrat die Auffassung, dass sich dem Schicksal zu ergeben, auch eine Beeinflussung durch Untätigkeit war. So würde es als Kraft immer unbewertbar bleiben. Auch wenn es weder gut, noch böse war, so half es immer bei Glück und Unglück, bei Sieg und Niederlage als Trost oder Feindbild. Etwas Unerklärliches erklärte das Unvorhergesehene, damit die Betroffenen lebten.

Die Hoffnung auf ein gutes Ende, dass ein besserer Anfang sein sollte, begleitete die Gedanken der Bewohner von Dragomar. Es war nicht nur die Zukunft von Dragomar, es war die gefährdete Freiheit der Bewohner der Antarktis.

 

Das Schicksal betraf auch die Zukunft eines jungen Pinguins, der nicht wusste, welchen Platz im Leben der anderen er einnehmen würde. Das Schicksal hatte keinen Plan. Der junge Pinguin hatte ihn auch nicht – bis er am nächsten Tag eine Entscheidung träfe, die vielleicht alles verändern würde. Ob sich sein Schicksal damit erfüllen sollte oder sein aufrechtes Handeln dazu führen sollte, ihm zu entgehen, war ungewiss.





ERSTER TEIL: ZUHAUSE

CHRONOTHAN, DER SCHWARZE DRACHE

Es schneite Gift und die Luft roch nach Schwefel. Die Schneeflocken sahen anders aus, als sonst. Sie waren nicht weiß, sondern schmutzig von Schwefel und Rauch. Er, der größte Krieger aller Zeiten würde sich jetzt aufmachen, den Feind, der so vielen unermessliches Leid zugefügt hatte und mit Feuer und Bosheit Tod, Zerstörung und Hoffnungslosigkeit brachte, endgültig zu besiegen. Besiegen hieß hier nicht, eine Kapitulation zu erzwingen, wie es in früheren Kämpfen möglich war, um selbst den Feind nicht vollends zu schädigen und sich selbst nicht im Hass zu ergießen. Besiegen hieß heute, unbarmherzig zu vernichten und die Chance auf einen Neuanfang, mit aller Härte herbeizuführen. Der eigene Zauber würde in einen tiefen, inneren Kampf stürzen. Darum würde es in jedem Fall sein letzter Kampf sein. Er würde keine neue, verdorbene Saat des gefühllosen Nutzens des Verstandes einbringen. Seine Gewalt würde nicht Teil einer besseren Zukunft, die aus Toleranz und Mitgefühl erwachsen sollte.

 

Die anderen standen um ihn herum. Sie waren sicher, dass er gewinnen würde, weil seine Niederlage nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Weltbild, mit allem, woran sie glaubten, zerstören würde. Ekky stand in Kreise seiner Familie und Freunde, den Tieren, den Menschen und den Drachen – es werden sechzigtausend gewesen sein. Die besten Zauberer hatten ihn bis hier hin, im Kampf gegen den Feind erfolgreich ausgebildet und waren ihm immer beiseitegestanden. Für das, was im letzten Kampf auf sie wartete, waren sie nicht stark genug. Der Gegner, den der Feind jetzt als letzte Waffe gesandt hatte, war übermächtig. Wenn einer eine Chance hatte, dieses Monster zu besiegen, war er es allein.

Er, Ekky, der Fürst seines Stammes, der Meister seiner Zunft, der Großmeister aller Zauberer und Magier, der Vorsitzenden des Rates, der Held von Asnalordh und zahlloser anderer Schlachten, die er geführt und entschieden hatte.

Er breitete seine gewaltigen Schwingungen aus, stieß einen roten Feuerstoß gen Himmel und startete zu seinem letzten Flug. Die Hoffnungen der Bewohner von ganz Antarktika begleiteten ihn. Für einen Vogel wäre es ein Tagesflug gewesen. Nicht für ihn.

 

Es war die goldene Stunde gekommen. Die Zeit, wenn der Tag den Abend mit einem Farbenmeer begrüßt. Der Moment, den die Maler so lieben weil die Zeit kurz still zu stehen scheint und die Farben von allem, was ist, bei diesem speziellen Licht, zu einer kraftvollen Überhöhung von allem, was wahrgenommen wird, erscheinen lassen. In Italien kämpfte sich zur gleichen Zeit die Renaissance mit Schönheit ans Licht. Die Menschen waren bereit, für ihre Sicht des Humanismus, dem dunklen Zeitalter den Todesstoß zu geben. Sie wussten nicht, dass sich das Schicksal der Welt, zumindest für den Moment und die Chance auf ein neues, gutes Zeitalter jetzt und hier, in der Antarktis, an diesem Tag, entscheiden würde. In der Natur war es die Stunde, in der die Geschöpfe des Tages kurz innehielten, um sich dann auf den Heimweg zu ihren noch sicheren Nachtlagern zu machen. Die Geschöpfe der Nacht erwachten. Noch einen Moment, mit überanstrengten Augen wieder einen unerlebt prächtigen Tag zu verabschieden, bevor sie sich in der Dunkelheit aufmachen würden, entsprechend ihrer angestammten Art, ihr Glück und Geschick zu suchen.

Ekky gehörte zu den Drachen der Welten, die allen anderen Drachen überlegen waren. Doch er war noch mehr. Er war der erste Drache aller Zeiten, der nicht nur die Welten in sich vereinte, sondern auch seine Wesensmerkmale, Träume und Fähigkeiten zu einer untrennbaren Einheit zusammen gefügt hatte. Sein Körper, der nicht sein Körper war, sondern der Körper vieler, in einer Einheit mit seinem Geist der nicht nur sein Geist war sondern der Geist seiner Vorfahren, derer, die ihn liebten, und seiner Magien. Sie waren nicht die starken Verbündeten mit freiem Willen, die für die gemeinsame Sache kämpften. Nein, sie waren alle miteinander verschmolzen zu einer Einheit aus purer Energie, die sich im nächsten und letzten Schritt der Entwicklung bereits jenseits der körperlichen Existenz befände. Er hatte die höchste Stufe der Drachenexistenz erreicht und war der erste Drache des Lichts. Wieder. Vor langer Zeit gab es schon einmal einen Drachen des Lichts. Als Kind umgekommen und jetzt auferstanden, ohne es gewusst zu haben. Es war nicht die Persönlichkeit oder Erkenntnis, die seine eigene kleine Geschichte fortsetzten, Es war die Erfahrung Kraft und Macht seiner Ahnen, die als Energie in ihm stützend und mahnend wachten.

 

Sein Gegner war nicht mehr fern. Die beiden Inseln, die im Zentrum dessen lagen, was das Schicksal der Welt entscheiden sollte, waren schon gut sichtbar vor ihm. Rechts die Insel seiner Vorfahren und Freunde seiner Heimat. Der Kristall an der Spitze des Berges, der als unzerstörbar galt, wurde vom Feind zu Kohlenstaub verbrannt. Der Kristall war immer das Symbol. Er war das Symbol der Stärke, des Zusammenhalts, der Magie, der Hoffnung und des Widerstands. Er war sogar das Symbol des Glaubens – in verschiedenen Epochen unterschiedlich genutzt und gehuldigt; kultisch und universell. Es war ein Gegenstand, ein Hilfsmittel der Magie, die selbst nicht gegenständlich war. Das Licht, das den Kristall speiste und um das sich viele Mythen der Zauberei und der Geschichte der Insel rankten, schoss ungehindert als weißer, gleißender Lichtstrahl senkrecht in den Himmel. Die einen sahen in ihm das Schwert, die anderen den mahnenden Finger einer menschlichen Hand.

Auf der linken Seite, in der Ferne lag die Insel des Feindes. Einst gehörten beide Inseln zu einem großen Reich. Die Insel des Feuers wurde Zufluchtsort des Feindes und er machte sie zu seinem Hauptquartier in der Region. In der Mitte der Insel stand ein aktiver, gewaltiger Vulkan. Er spuckte Feuerbomben und trieb glühende Gesteinsmassen die Abhänge hinunter ins Meer. Wo die heiße Lava aufs Meer traf, zischte und fauchte es in einer aufsteigenden Wand aus Wasserdampf. Hier würde der eine Gegner auf ihn warten, fern von seiner eigentlichen Heimat.

 

Sein Gegner war der letzte Gesandte des Bösen und seine unbestechliche Verkörperung. Chronothan war sein Name. Der schwarze Drache von Hadnigor. In allen vorhergehenden Schlachten, die Ekky geführt hatte und es dort zur Meisterschaft brachte, war der schwarze Drache nie in Erscheinung getreten. In all den Jahren konnte Ekky die starken Gegner vertreiben oder ausschalten. Immer war der Ausgang unsicher und immer forderte es hohe Verluste auf beiden Seiten. Er hatte gegen fremde Drachen, Verräter aus den eigenen Reihen und vom Bösen geschaffene, alles zerstörende Kreaturen gekämpft. Chronothan war stärker, aber nicht zum ersten Mal der Gegner von Ekkys Familie, die eine Dynastie unter den Drachen der Vorzeit dargestellt hatten.

Nun war er wieder da. Größer, stärker und pechschwarz. Der schwarze Drache hatte seiner Heimat, seinen Palast, das goldene Verlies in Hadnigor verlassen, nachdem Ekky alle anderen Gegner und Helden des Bösen, die zu Materie gewordenen Geschöpfe, die der Fantasie vieler bösartiger Gedanken und Taten entsprachen, besiegt hatte.

 

Das Böse ist ein Ergebnis, kein Ursprung. Es sammelt sich in Seen, die Schwerter sind – als ein Öl – überall, unter und auf der Erde. Das Böse ist zähflüssig und doch kriecht es überall hin. Es beginnt langsam zu brennen, aber wenn es brennt, entfaltet es seine ganze Macht. Das Böse wächst mit schlechten Gedanken, Worten und schlechten Taten. Diese irren zunächst ziellos wie kleinste, unwichtige und geduldete Organismen, bis sie zu der Essenz werden, die das Böse um einen Tropfen reicher werden lässt. Wie das Öl reicht ein Tropfen, um einen dünnen Film zu erstellen, der unter sich alle Güte und Freundlichkeit erstickt. Im Alltag würde das Böse immer im Vorteil sein. Zerstörung braucht keinen Plan, ist schon im Kleinen schädlicher und findet mehr Anhänger als das Gute auf seinem mit allen geteilten, beschwerlichen Weg ans Licht. Diesen trat das Gute nicht für eine Belohnung oder Beifall an. Es konnte nicht anders, als es wieder und wieder zu versuchen, wie beschwerlich es auch war, oder wie lange es auch dauern würde. Das Böse konnte warten und jederzeit zuschlagen. Der Erfolg des Guten grämte das Böse nicht. Die nächste Zerstörung von Hoffnungen und Träumen würde nur imposanter und zerschmetternder sein.

Chronothan stand oben, mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Vulkan, den Kraterrand, über den sich rotglühende Lava ergoss, mit seinen Klauen umfasst. Die Lava floss über seine Klauen und erkaltete schneller, weil jede Energie ihn nährte. Er brauchte diese Energie nicht. Selbst die Energie eines Drachen des Lichts reizte ihn nicht. Das Böse in ihm war so stark, dass es sich selbst nährte. Der innere Wettstreit des Bösen gegen das Böse, mit ausschließlich bösen Absichten war der Schlüssel zur optimalen Energieverwertung. Die inneren Kriege führten zur äußeren Stärke. Er war nicht wieder zu erkennen, auch sein Verhalten nicht, aber seine ruhigen, dominanten Augen verrieten ihn. Seine Fähigkeiten waren nicht von dieser Welt. Als ehemaliger Drache des Feuers war seine größte Waffe immer noch die Flamme. Diese war nicht mehr Gelb oder Feuerrot. Sie loderte nicht wie ein Feuer. Sie sah aus wie ein schwarzmetallener schimmernder, harter Strahl aus Gas, der alles erstickte, was er berührte. Chronothan konnte auch kleine schwarze Rauchringe ausspeien, die alles, was in ihre Nähe kam, in sich hinein sogen und so stark zusammendrückten, dass ein großer Wal auf die Größe eines Sandkornes schrumpfte und dieses Sandkorn-kleine Gebilde dennoch so schwer war wie der ganze Wal. Einmal freigesetzt und nicht wieder von ihm aufgesogen, würden die schwarzen Rauchringe nicht aufhören, Materie einzusaugen, bis der ganze Planet ein kleiner Klumpen mit großer Masse wäre.

 

Ekky musste das Ende von Chronothan jetzt erzwingen. Er war im Zielanflug und Chronothan eröffnete das Feuer mit langen Stafetten von Gasgeschossen, die wie gerade Blitze durch die Luft surrten. Ekky aktivierte seinen Schutzschild, mit dem er in Lava hätte tauchen können und lenkte die Geschosse, denen er durch Ausweichen nicht entkommen war, ab. Auch er eröffnete das Feuer. Er spie eine von einem aus seinem Schlund kommenden Blitz getragene Barnakath, ein fliegendes Kraftwerk aus, das seinerseits Blitze aussandte. Der Trägerblitz brachte die Barnakath hoch in die Luft und platzierte sie direkt über und hinter dem schwarzen Drachen. Sie feuerte unentwegt Blitze auf Chronothan ab. Nur beim Abfeuern der Blitze sahen diese noch aus, wie gewöhnliche Blitze am Ort ihrer Entstehung, bevor sie durch die Luftschichten wirrten und sich verzweigten. Diese Blitze waren geradlinig, wurden langsamer und verloren ihr Leuchten, kurz bevor sie, wie abgeschossene Harpunen, auf ihr Ziel trafen. Die Treffer im Ziel waren keine klassischen, ballistischen oder rein energetischen Einschläge, sondern eine Art Annäherung an das Ziel, dass selbst die Blitze anzog. Die Treffer der Blitze waren schwer und zeigten Wirkung. Chronothan hatte es zunächst nicht Ernst genommen, dass er beschossen wurde. Dennoch wurde er schwächer. Der Unzerstörbare verstand nicht sofort, was es mit dieser Waffe auf sich hatte. Der schwarze Drache wirkte überrascht von seiner Verwundbarkeit und drehte sich um. Die Blitze waren nicht eingeschlagen und hatten ihn auch nicht verwundet und dennoch zeigten sie Wirkung. Die Enden der Blitze waren wie dunkle, fast unsichtbare Kelche und schwebten direkt vor seinem Körper. Die Blitze führten von diesen Kelchen zurück zu ihrer Quelle, der Barnakath, von denen Ekky inzwischen zwei weitere auf der Anflugseite platziert hatte, die nun auch Blitze abfeuerten. Eine Weitere war auf ihren Leitblitz auf dem Weg, um die Erste zu ersetzen, sobald diese explodieren würde. Die Blitze, die die Barnakath und den schwarzen Drachen verbanden, waren wie glühende Drähte, deren Glühen am stärksten an der Barnakath selbst war. Jedes Mal, wenn Chronothan einen dieser schwebenden Kelche packte und wegschleuderte, wurden, in einer lauten Explosion, Mengen an Energie frei. Die Explosionen selbst schadeten Chronothan kein Bisschen. Sie verpufften in der Luft und die Verbindungen zur neue Blitze abschießenden Quelle waren fort. Die Waffe war keine gewöhnliche Barnakath, die Blitze speiende Drachen der höchsten Stufe in ihrem Repertoire hatten. Dies war eine Barnakah Rhe. Nur Drachen des Lichtes waren imstande diese Waffe zu erzeugen und zu kontrollieren. Ihre Funktionsweise basierte darauf, mit Energie eine Masse, wie an einem Transporterseil, dem Blitz, nahe an den schwarzen Drachen zu bringen und Energie von ihm abzuziehen. Zwischen den Drachen und den Kelchen entstand eine Energiebrücke, die Energie aus den Drachen abzog und als Licht und Wärme zur Quelle der Blitze transportierte. Wenn die Barnakath selbst ihre kritische Masse erreichte, explodierte sie, ohne dass die Energie zurückfloss.

Beim Wegstoßen der Kelche verpuffte auch die Energie, die der schwarze Drache aufbrachte, um die Bindung zwischen sich und den Kelchen zu brechen. Er wurde immer schwächer. Ekky hatte gewusst, dass diesem Gegner nicht mit noch mehr Feuer, gewöhnlichen Blitzen oder Geschossen beizukommen war. Er stand mit langsamen Flügelschlägen, in einiger Entfernung, hoch in der Luft und beobachtete seinen Gegner, der, entgegen seinem Naturell, rasend vor Wut, lauter Explosionen verursachte, weil er die Verbindungen brach. Ekky wähnte sich kurz vor dem Ziel und bereitete sich auf seinen nächsten Angriff vor. Er hatte einige Eisberge, nur mit seinen Gedanken, schon vor Tagen in die Nähe des Vulkans gebracht und ließ sie jetzt, sich aus dem Ozean erheben. Er dirigierte die schwebenden Eisberge hinter seinen Gegner über den Krater des Vulkanes und ließ sie in den mit Magma befüllten Krater fallen. Einen nach dem anderen. Es knallte und zischte, als die Eisberge ins flüssige Gestein fielen, der Wasserdampf aufstieg und eine satte, dichte Wolkendecke über dem Vulkan bildete. Es reichte noch nicht, für das, was Ekky vorhatte. Er schleuderte sechs starke Blitze in die Kraterwand, unterhalb des Magmapegels. Das Gestein brach und das Magma ergoss sich in den Ozean und erzeugte eine fauchende Wand aus Wasserdampf, die gegen den Himmel aufstieg. Nun war es so weit. Ekky schoss einen langen Strahl Eiskristalle, die in einem silbrigen Gas flogen. Über den Wolken fielen sie nieder. In den Wolken wuchsen die Eiskristalle zu Eiszapfen, die auf Chronothan niederschlugen und den geschwächten Drachen kalt erwischten und verletzten.

 

Chronothan war beschäftigt und Ekky, als Drache des Lichts würde jetzt seine stärkste Waffe einsetzen.

Plötzlich geschah etwas, das die ganze Niedertracht seines Feindes offenbarte. Das Böse setzte auch eine Waffe ein, die einen komplett aus der Welt reißen konnte. Nicht einmal Chronothan würde ihr standhalten.

»Aufstehen, Ekky!«

So war das also. Der Feind hatte neben seiner stärksten Waffe, dem schwarzen Drachen, auch seine gefährlichste, endgültige Waffe eingesetzt. Der Feind musste so verzweifelt sein, dass er glaubte, diesen Krieg nicht mehr mit konventionellen Mitteln gewinnen zu können. Es würde den Kampf ungerecht entscheiden und das Böse für immer über die Welt triumphieren lassen, weil er, Ekky, der sieggewohnte, der beste Krieger und Zauberer aller Zeiten, seiner unausweichlichen Niederlage entgegenflog. Der beste Kämpfer wird gegen das ultimative Böse kampflos verlieren, das in Sprache und Gestalt erbarmungsloser nicht hätte erscheinen können: Tante Maja.





ERSTER TEIL: ZUHAUSE

»AUFSTEHEN, EKKY!«

Aufstehen war nicht seine Sache. Schon überhaupt nicht, wenn ihm zum ersten Mal gewaltige, signalrote Flammen und zinnoberroter Rauch aus den Nasenlöchern kamen. Egal, was war schon ein Traum ohne Feuer. Der Rauch allein war schon ein Grund genug, einfach liegenzubleiben und darauf zu warten, dass das ungewohnt Lästige von dem gewohnt Lästigen verdrängt würde. Er würde gerne auffallen, den Rahmen des Alltags mit ›Hey, ich kann Feuer schnauben!‹, aufbrechen – aber bitte nur, wenn der gewohnte Trott ihm als Gehhilfe durchs Leben weiter, unverändert zur Verfügung stünde.

Der Morgen begann wie jeder Morgen – mit einer Entscheidung. Wie jeden Morgen entschied er sich nicht gegen etwas, sondern für etwas, das Liegenbleiben. Weder der Weckruf, den er glaubte gehört zu haben, noch die Flammen, die aus ihm hervortraten, hatte er damit ignoriert. Nein, er wollte nur sicherstellen, dass die Elemente Feuer, Luft und Erde, ihren Wettstreit um seine Aufmerksamkeit, unter sich ausmachten. Das war etwas unfair, weil die Elemente Erde und Luft eine starke Verbündete in Tante Maja hatten, die allem, was aus der Reihe tanzte, seinen vorbestimmten Platz im System zeigte. Das war notwendig, denn ›ein System wird nur durch Ordnung aufrechterhalten‹ Wenn sie wüsste, was passiert, wenn zwei ordentliche Systeme sich unordentlich in die Federn kriegen… . Außerdem war das Feuer neu. Es konnte auch gut sein, dass er die Sache mit dem Feuer nur geträumt hatte, wie so viele andere abenteuerliche und sonderbare Dinge. Feuer, das nicht von einem Blitz oder Vulkan kam, gab es hier in der Antarktis sowieso nicht. Hier gab es nichts, was hätte brennen können - zumindest nicht lange. ›Fels?, Eis? Wasser? Möwen?‹ Ekky lächelte bei dem Gedanken an angekokelte Möwen, die dann nur noch zu Fuß versuchten, ihm sein Essen zu klauen.