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Promenade
„Bist du von allen dir soeben noch freundlich gesinnten Geistern verlassen? Hebst dein Bein an einem Vertreter der Grundlage unserer Existenz?“
Der Hund, dessen zarter, mittelgroß gewachsener Körper in gefrorener Anspannung verharrt, verwendet keinen Gedanken an die rüde und gleichsam umarmend erläuternde Aufforderung, seine Aktivität an dem blattlosen Sanddornstrauch zu unterbrechen und das erhobene Bein zu senken. Mit den Augen eines Hundes, der sich seine Gewissheit um deren Ausdruckskraft nicht anmerken lässt, sieht er innehaltend mit einem Blinzeln zu Sandy; sein Blick und seine Prioritäten wandern in aller Seelenruhe schweifend über die winterliche Strandpromenade von Kühlungsborn, wo ein rauer Wind sein Fell durchpflügt. Er genießt diesen Moment der Entlastung in den Zeiten, in denen die Luft nicht von Reizen unterschiedlichsten Ursprungs überflutet ist. Zu dieser Jahreszeit sind Gerüche, die, von der Brise getragen, des Hundes feuchte Schnauze erreichen könnten, seltenste, mit Begeisterung aufgesogene Ereignisse.
Nach seiner Erleichterung hält er einen Augenblick in der Haltung inne und sieht sich durch den Einklang der Ermangelungen von geruchlichen, akustischen, visuellen und taktilen Reizen, Letztere gemessen in Streicheleinheiten, bestätigt, dass diese Zeit ihre eigenen Qualitäten hat. Der Genuss steht ihm in den Augen und seine feuchte Nase wittert kleinste Nuancen in der gesellschaftlichen Einöde, die in der Hochsaison ein Rummelplatz ist; in allen Sinnen turbulent: Gerüche in zigtausendfacher Art; Speisen, Sonnenöl, Deo und Schweiß bis zur Aufstößigkeit. Die liquiden Hinterlassenschaften der fremden Hunde sind gewollte Provokationen, eine scheinbar in verschwiegener Abstimmung, im Geruchsspektrum jeweils lärmend vorgetragene Übernahmeerklärung gegenüber den bisherigen Anteilseignern des lokalen Kosmos, den Einwohnern – ihm. Die fremden Hunde sind Gäste. Diesem Status unwürdig sind sie erpicht, ihren Pfotenabdrücken, jeglichen Indizien ihrer Existenz einen bleibenden Charakter zu verleihen. In einer sommerlichen Emulsion aus Schlendern, Reden, Trampeln und exaltiert dargebotener erstklassiger Laune bleibt das Gefüge stabil, solange die Emulgatoren Wasser und Wetter wohlgefällig mitspielen.
›Ich bin nicht fair; es ist komplizierter‹, grübelt er, seine eigene Voreingenommenheit hinterfragend. ›Sie sind aufgeschlossen und beabsichtigen geringfügig mehr, als den für sie kostbaren Moment zu genießen. Was für mich eine Folge von vermuteter, organisierter Serienbelästigung darstellt, einem Eingriff in meinen Alltag, ist für sie, wie gesellschaftlich postuliert, eine seltene Gelegenheit zu nutzen, die angeblich beste Zeit im Jahr zu verbringen. Klar, dass da die Spannungen sich an Haarrissen austoben und so weit übertragen, dass sie sogar auf den Hund kommen.‹ Jeder der Akteure ist im vermeintlichen Einklang mit sich und mit einer Botschaft der Präsenz – und sei es als Hindernis auf dem Gehweg – an die Allgemeinheit; ein Individualist auf der Suche nach Bestätigung, und wenn es nur darum ginge, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Zugleich sind sie, gleichfalls zumeist dem Alter relativiert, aus verschiedener finaler Absicht auf der Pirsch, um empirisch, in Feldversuchen, der auch genetischen Vernunft folgend, Schnittmengen zu erkennen und Kommunikation zur Bildung einer gemeinsamen Frequenz auf einer neuen, höheren Ebene anzuregen. Musik und Unterhaltung an einigen Ecken. Sommer ist Hochsaison. Angeborene Auslösemechanismen im Zufälligkeitsmodus unter sich: Das Übersprungsverhalten des Einen ist der Schlüsselreiz für andere. Die Zeit, in der sie ihn wieder instrumentalisieren. Er, innerhalb der Familie herumgereicht, genutzt und gestreichelt, um durch ihn mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Auf der Kehrseite der Medaille steht, dass er ab Mai von den bewirtschafteten Strandabschnitten ausschließlich am Hundestrand erwünscht ist und außerhalb seiner ›Einsätze‹ zuhause bleibt.
Der eisige Atem der See zieht über sein Luv-Auge, das zu tränen beginnt. Er senkt das Bein mit Bedacht, streckt sich und tänzelt im Trab schlangenwandelnd mit gespanntem, hin und her winkendem Schwanz bei erhobenem Haupt von links nach rechts auf der Promenade wie ein Feldherr, der angesichts seiner siegenden Truppen auf dem Schlachtfeld vor seiner Anhöhe einen bevorstehenden Triumph feiert und von seiner zuvor unverkennbaren Würde ablässt.
„Mäuschen, wenn du dich nicht benimmst, gehen wir auch im Winter an den Hundestrand und danach liefere ich deine süße Schnute bei meiner Mutter ab.“
Sandy betrachtet das durch die frische Nässe kontrastreichere, ansonsten außerhalb der Vegetationsphase blasse Gestrüpp, ohne es zu fokussieren: „Mädchen, ihr macht uns Schwierigkeiten“, murmelt sie in sich gekehrt. Es ist spärlicher Betrieb auf der Strandpromenade und niemand nimmt Kenntnis von ihrem Zwiegespräch mit dem geliebten Tier und einer Vertreterin der Ölweidengewächse, die beide andere Baustellen sind, als fünf Kinder großgezogen zu haben.
Der Hund senkt den Kopf, streckt ihn vor und fädelt sich reibend an Frauchens Hose in eine anlehnende Umlaufbahn mit Seitenwechseln. Er beschreibt seine genussvollen ›Achter-Bahnen‹ unablässig um ihre schlanken, langen Beine, sich ausschließlich am Leben orientierend und nicht dem Quadratmuster der großformatigen Gehwegplatten folgend, mit denen nicht der Versuch angestellt wurde, ein Alleinstellungsmerkmal wie der Wellen darstellende Bodenbelag, der Calçada Portuguesa, des unwesentlich längeren Calçadão de Copacabana in Rio de Janeiro zu schaffen. Ihr Streifenmuster von heiter-hell und heiter-schattig ist breit und von dynamischer Varianz. Schlüsselstellen wie der Vorplatz der Seebrücke und der Baltic-Platz weisen statisch wirkende Großmuster auf, um die lokalen Aufenthaltsqualitäten anzuzeigen.
Auf der Jeans sind Hundehaare schwer auszumachen. Es ist frisch und Sandy schiebt ihre Hände in die geräumigen Taschen ihrer Steppjacke. Sie zieht die schmalen Schultern dichter in die Körpermitte, um geringere Angriffsfläche zu bieten. Nicht der Wärmeverlust ist ihr erklärter Gegner, sondern der eisige Wind. Im Ergebnis gleich, selbst wenn das Personifizieren eine Umkehrung thermodynamischer Grundsätze darstellt. Ihr schulterlang blondbehaarter Kopf ist durch eine beige, doppelt genähte Häkelmütze geschützt, die minimal überhängt und nicht aufträgt, um den Möwen Nistmaterial oder Inhalt zum Promenieren und Angeben in der Kolonie, nicht zu leichtfertig feilzubieten.
Sandy hat eine steile Karriere hinter sich. Fünf Kinder, ohne schreiende Hinweise auf gravierende Fehler ins Erwachsenenalter geschoben zu haben, ist eine Leistung. Hinzu kommt das immense Glück, bis hierhin nicht von Schicksalsschlägen erwischt worden zu sein. Dass ihr erster Mann sich flugs vom Acker getrollt hatte, ist in der Gesamtschau zweifelsohne als Glücksfall zu bewerten. Ihre antiautoritäre Erziehung macht sich beim Hund ebenso bemerkbar wie bei den Kindern. Zumindest bei ihren Sprösslingen hatte es im Großen und Ganzen funktioniert. Keiner von ihnen scheint sich bisher als derart sozial gestört herausgebildet zu haben, dass Sandy sich sorgenreich im Bett wälzte.
Hoffnungslos läuft es bei dem verspielten Mäuschen von Hund. Er vermag, Menschen in sanftmütigstes Entzücken zu versetzen, aber er veranstaltet, was ihm in den Sinn kommt, und sei es ungewollt dusselig.
„Da ist alles danebengegangen“, nuschelt sie. „Wenn er gute Laune hat, tobt er sie aus.“ Sie lächelt. ›Wie Gerd!‹, streift sie ein unaufgeregter Gedanke über die Tragweite der eigenen Kapitulation ehelicher Erziehungsversuche, in Betrachtung des herumtrabenden, planlos wirkenden Vierbeiners. Sie neigt ihren Kopf und ihre Augen folgen dem Hund, derweil sie versucht, mentale oder sogar charakterliche Unterschiede zwischen ihrem Ehemann, mit dem sie seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet ist, und dem Tier auszumachen. ›Klar! Gerd ist nicht mehr neugierig wie früher, er wechselt nicht dauernd Straßenseite und er stellt sich nicht an einen Busch oder Baum – zumindest nicht innerhalb geschlossener Ortschaften.‹ Sandy beendet ihr Lächeln, indem sie die Lippen zusammenpresst, obschon ihr Mund nicht geöffnet war. ›Es ist alles gut.‹
Der Hund hat den Aktionsradius erweitert. Zum Leidwesen mancher Passanten ist es auch die physische Freundlichkeit, die einen anspringt.
„Gleich kommst du wieder an die Leine.“
Ein Schauer, ausreichend, bei Säugetieren die Nackenhaare aufzustellen, fährt Sandy über den Rücken. Sie kennt das Gefühl; es ist weder die pure Vorfreude auf ein bevorstehendes Ereignis, noch eine Ahnung, die einem das Blut gefrieren ließe. Unaufdringlich vertraut und zugleich eine Warnung, wie Vorsichtsmaßnahmen, die zu treffen sind, wenn eine seichte Flut kommt. Es wird nicht gleich apokalyptische Ausmaße haben, nicht einmal negativen Ursprungs sein. Es ist wie das Gefühl, besser die Wäsche von der Leine zu nehmen, bevor der Wind auffrischt oder Regenwolken aufziehen. Die menschliche Komponente berücksichtigt, ist es für Sandy dicht dran, an dem Innehalten, im Café mit einem Stück Torte erwischt zu werden, wenn sie am Vortag vollmundig proklamiert hätte, sofort, durch Verzicht auf ihre Linie zu achten. Das Eindringliche an Leitbildern ist ihre Kraft, bei Freund, Feind und Positionslosen Anlass für Überlegungen und Auseinandersetzung zu sein.
Hanna, ihre Mutter, der Auslöser der körperlichen Regung, ist in emotionaler Witterungsweite. Sandy hinterfragt ihre Gefühle, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Kein Versprechen oder eine aktuelle Abmachung, die sie nicht eingehalten hätte, liegen in der Luft. Missfallende Worte, hinterhältige Gedanken, denen das eigene Gewissen einen Spiegel vorhalten würde, sind ihr nicht präsent. Das Kribbeln ist nicht wie das wohlige Erwärmen wegen des nahenden Freundes oder wie bei ihr, ihrem Ehemann, bei dem im Gefühl Aufregung im Spiel ist, unabhängig davon, wie viele Jahre sie zusammen sind. Es in Bezug auf Gerd zu beschönigen, träfe nicht den Kern, die erhöhte Empfindsamkeit, die, auch zu ihrem Leidwesen in beiderlei Richtungen jederzeit und ungebremst ausschlagen kann.
Der Hund rastet vor Freude aus, als er Hanna erkennt. Er liebt sie. Bei ihr erfährt er aufrichtigen Zuspruch, den er sich nicht erarbeiten muss und für den er keine Tricks vorführt. Sie sieht ihn, wie er ist – nicht in Bezug auf seine Unterwürfigkeit bis hin zur Treue. Er ist frei von domestizierten Vorahnungen, dass er belohnt würde, weil Dritte seine Handlungen oder Unterlassungen für genehm, gar ›brav‹ erachten. So trivial sie es verlauten lässt und der dezidierte Wahrheitsgehalt Fragen aufwerfen könnte, so berechtigt glaubwürdig und einem schönen Geiste folgend, scheint ihr Ansinnen.
„Ja Halloooo. Da bist du ja, du Schöner. Ich habe dich so vermisst. Du süße, süße, kleine Maus! Alles, was du machst, machst du so fein. Du bist der Beste, Allerbeste der ganzen Welt. – Und so hübsch. Wenn ich dich nicht hätte.“
„Mutti, du brauchst dringend wieder einen Hund, der dich auch begleitet. Hol dir einen. Wir fahren zum Tierheim oder suchen im Internet nach einem Begleiter.“
Hanna geht auf Sandy zu und begrüßt sie auf französische, nicht auf sowjetische Art. „Hallo Schatz. Ich hatte achtzehn wundervolle und vollkommen verschiedene Hunde in meinem Leben und kann mich nicht an ihr Sterben gewöhnen. Der jeweils Letzte war sie alle.“ Sie dreht den Kopf, zieht ein Taschentuch aus der Jackentasche und pflegt sich in elegantester Zurückhaltung die Nase.
Sandy sieht fragend zu ihrer Mutter. ›Sollte sich eine Altersmilde bei ihr einstellen, eine Sentimentalität, die sie auslebt; gegen alle Parolen, Kitsch und emotionale Ausflüchte; sie tatsächlich auf ihre gefürchteten Gefühlsfeuerwerke zugunsten einer wabernden Melancholie verzichten?‹
„Was ist denn mit dir los? Ich bin offen gefahren und mir läuft die Nase. Wenn du den Tod nicht ertragen kannst, darfst du dir kein Haustier zulegen – ein Kaninchen schon gar nicht. Ich liebe sie. Versuchs besser mit einem Großpapagei. Die werden achtzig. – Beim Hund bin ich unentschlossen. Wenn, dann wird es ein Riese. ›Otto‹. Sollte es für mich beizeiten unvorteilhaft danebengehen, müsstet ihr ihn übernehmen. Die werden mit vierzehn Jahren ziemlich alt für die Größe. Ich habe einen Termin zum Essen mit ihm in Vorbereitung. Es gibt Gänsebraten. Er wird es lieben.“
„Mutti, dass du mich verwirrst, muss ich nicht mehr erwähnen. Ich tue es dennoch, damit du kapierst, dass du gerne neben der Spur fährst. Gänsebraten? Otto? Woher der Name? Nazigegner oder Frauenrechte?“
„Louise Otto-Peters, ›Das Recht der Frauen auf Erwerb‹. Ich würde wieder einen Rüden nehmen, daher ›Otto‹.“
„Recht auf Arbeit? Ist das nicht ein bisschen dünn?“
„Achtzehnhundertsechsundsechzig nicht; vor allem, wenn es darum geht, als Frau selbst Einkünfte zu haben. – Sandy?“
„Ja?“, kommt es zögerlich aus ihr heraus, ahnend, dass irgendein allgemeiner, alternativ spezieller Hinweis zu einer als nicht vorteilhaft betrachteten Komponente in ihrer Lebensführung oder in der ihres Mannes in der Luft liegt. Ginge es um Sandys Kinder, Hannas Enkelkinder, würde Sandy nichts davon erfahren, weil ihre Mutter es heimlich und direkt klären würde, wenn eines von ihnen Mist baute, in der Klemme steckte, oder Hanna würde nicht auf eine zufällige Gelegenheit warten, um mit ihr darüber zu sprechen, sondern jederzeit sofort den Familiennotstand ausrufen.
„Wolltest du nicht mit dem Rauchen aufhören?“
„Mutti! Ich bin mittendrin. Ad hoc klappt nicht. Die Stimmung geht in den Keller und ich auf die Palme. Stattdessen arbeite ich daran und reduziere allmählich. Hast du mich liebevoll begrüßt oder wie ein Drogenhund beschnuppert?“
„Du bist mein Kind. Ich kann nicht anders.“
„Und? Wohin des Weges? Hafen?“
„Ja.“ Hanna hat eine der täglich schwereren Entscheidungen vor sich, die ihr zuweilen von hilfreich übereifrigen Kellnerinnen und Kellnern abgenommen wird. Cappuccino, Bier, Weißwein oder Spritz. Häufig parkt sie Jean abseits des Zieles, um in Gedanken eine Weile am Wasser zu gehen. Es ist eher die Leere als die Weite, die sie bei ihren Momenten mit dem Blick über die See in die Ferne von Personen und Dingen ihres Lebens sichtbar befreit, um ohne Ablenkung in Beziehung zu sich zu treten. Ein ganzheitliches ›Sackenlassen‹, und wenn es einige wenige Minuten sind. Hanna holt nicht nur mit dem Arm weit aus. „Mein liebes Kind. Ich genieße das Meer im Winter in seiner Eigenart, die es zum Sommer verliert. Ungezügelt, mit gischtspritzenden Wellenbergen, die kraftvoll am Strand auflaufen und Unmengen an Sand mitnehmen, dass sie mit den Baggern und Muldenkippern mit dem Auffüllen nicht hinterherkommen. Das genieße ich nach Möglichkeit touristenfrei.“
„Mutter, du weißt, dass du an der Ostsee bist und nicht mehr mit Trixi auf der Bildungsreise durch Portugal bei einem Zwischenstopp bei den Megawellen in Nazaré am Atlantik? Wofür hältst du Rerik? Diamond Head?“
„Kind, sag dreimal schnell hintereinander Honolulu!“
Sandy starrt ihre Mutter mit einem Blitze entladenen Gesicht an. Der Spielwitz ist ihr so vertraut wie suspekt.
„Hätte beinahe geklappt. Egal. Wenn der Wind kräftig auffrischt, brauchst du mich zuhause nicht zu suchen, dann bin ich hier – oder am Gespensterwald – und genieße, was an Wellen reinkommt. Heute Hafen. Mir ist nach Cappuccino. Einen heißen Sanddorn – aus unserer Presse – hatte ich ausnahmsweise gestern. Da war es draußen merklich kälter.“
Das Clanverständnis und das Einstehen für den Clan, dessen unangefochtenes Oberhaupt sie ist, geht bei Hanna nicht bis in rituelle Tiefen sozialer Integrität, dass sie ausschließlich auf die eigenen Produkte bestünde. Ein italienischer Bitter oder Spritz wird von ihr bevorzugt. Es gehört zu ihren häuslichen, täglichen Gewohnheiten, die sie bis zum Exerzieren aufrechterhält, ein Glas verdünnten Sanddornnektar, ungesüßt zu trinken. Es sei dahingestellt, ob das über die Jahrzehnte einen medizinischen Effekt brachte – sie beharrt auf ihrer Kontinuität, die sie in ihrer Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit bestätigt. Es ist mehr der Akt als der Fakt der Einnahme des Getränkes.
„Am Hafen ist um diese Zeit was frei. Nicht in den Strandkörben, mit dem Rücken zum Wasser, weil Sonnenlicht im Gesicht spannender als die See ist.“
„Die sind alle zur Sonne ausgerichtet.“
„Eben. Warum? Für Licht auf der runzeligen Haut können sie sich zuhause in Düsseldorf mit einem Campingstuhl vor die Tiefgarageneinfahrt setzen oder in Radebeul in den Garten. Ich verstehe es nicht, die guten Plätze mit Meerblick sind frei. Nicht mein Schaden. Mittlerweile stehen die Dinger weitab vom Strand – Achtung bei der Wortwahl: ›Strandkörbe‹. Die sind Streetwear geworden und gehören so wenig in die Vorgärten oder Straßencafés wie Palmen für den Sommerlook in norddeutsche Fußgängerzonen.“
„Streetwas?“
„Straßenkleidung, ironisch gemeint; habe ich von deiner Schwester. Ihre New Yorker Zeit klebt wie – Moment – ›Fashion‹ an ihr.“ Hanna spricht das englische Modewort aus, als würde sie mit einer ungeschützten Gähnoffensive ihre lautstarke A-Umlaut-Fähigkeit testen. „Kindchen, zunächst einmal wollte ich zu dir. Dass ihr am Wasser herumgeistert, war klar. Der Wagen steht nicht auf dem Parkplatz vom Hafen. Zuhause wart ihr alle weg; du, das Auto und der Hund. Parkst du am Supermarkt oder bei uns?“
„Am Markt. In die Strandstraße fahre ich heute nicht. ›Haus Wellenglück‹. Ich kann mich an den Namen deiner Kiste genauso wenig gewöhnen, wie du dich an den von diesem Sonnenschein.“ Sandy tätschelte den Hund.
„So nannte deine Urgroßmutter das Haus. Alles kannst du mir nicht in die Schuhe schieben. Geh durch die Straßen und lies lauthals die Hausnamen. Da bist du in einer vergangenen Zeit. Sie haben was mit Sonne, Meer, Strand, Frauennamen oder was Bäderzeit-Kaiserliches. – Also am Supermarkt.“
„Wir sind zum Schnuppern auf der Promenade. Ich will fürs Wochenende einkaufen. Kann ich ihn kurz bei dir lassen, dann muss er nicht vor der Tür warten.“
Hanna sieht das schlanke, gepunktete Wesen mit prüfenden Augen an. „Na, du Dreckschleuder. Meinst du, wir beide kommen die nächsten Stunden miteinander klar?“
„Wuff.“
„Und? Du auch einen Cappuccino oder lieber Wasser?“
„Wuff. Wuff. Wuff.“ Der Vierbeiner windet sich stehend und anschließend auf dem Rücken liegend, wie der beinpaarweise Gang den Körper eines Salamanders verformt.
„Das hätten wir geklärt.“ Hanna lässt ihren Blick eine Weile auf dem sich beruhigenden Tier, sieht dann weiter runter auf ihre von einem Starnberger Arzt mit weichen Sohlen und harten Kappen und Stoßfalten bildenden Quartieren erfundenen Nachkriegs-Orthopädie-Springerstiefel, die sie in einem modischen, glänzenden Schattenmorellenrot aus der wieder in England gefertigten ›Vintage Collection‹, trägt. Sie liebt ihre Botten. Es dauert für Hanna eine Ewigkeit, gefühlt tausend Meilen, die Biester einzulaufen; ein sicherer Stand ist Ende sechzig Gold wert.
„Was ist mit deinem Mann los? Er guckt bedröppelt aus der Wäsche – und halte dich fest – tiefsinnig nachdenkend. Letzteres kenne ich nicht von ihm. Er kann es tragen; ungewohnt ist die gerunzelte Denkerstirn.“
„Mutti, sag, wie es ist. Du bist besorgt, hast keine Ahnung, was los ist, und frotzelst rum, anstatt zu fragen, weil du nicht weißt, ob es dich was angeht oder du einen wunden Punkt triffst. Wird im Dorf wieder getratscht? Bevor du tagelang auf dem Pulverfass brütest, bis es hochgeht, nachdem du auf Nebenschauplätzen gewettert hast: Wir haben ein Kaufangebot für unsere Sanddornfelder bei Kägsdorf bekommen. Da hat einer vor, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und einen Freizeitpark mit Rollercoaster zu errichten“.
„Mit was?“
„Eine Achterbahn. Wie so oft. Einer fängt an und nun steht in jedem Kuhdorf der Welt mit Touristen ein Riesenrad und jemand will irgendetwas mit Fahrgeschäften verticken. Geht uns nichts an. Das Angebot ist gut, aber der Kauf gilt vorbehaltlich einer Baugenehmigung. Die fordern eine Anhandgabe von sechs Jahren und zahlen solange normale Pacht für Grasland. Unser Sanddorn wird eingehen, warum auch immer. Gerd hat nicht vor, der Letzte zu sein, der den Absprung wagt – und dann kaum noch Wasser im Becken ist. Die Produktionsanlagen sind abbezahlt. Das ist beruhigend; einen Nutzen hat es nicht mehr. Wenn es wieder gesunde Pflanzen gibt, können wir problemlos weitermachen und brauchen dann die Flächen. Was arbeiten wir bis dahin und wie lange wird es dauern? Auf der anderen Seite ist der Verkauf von Grund weder eine Geschäftsidee noch eine dauerhafte Lösung. Wir sind auf See und es ist kein Land in Sicht.“
Hanna hat ihre bislang unumstößliche Auffassung von Immobilienveräußerung und bei ihr bedeutsam persönlicher tituliert, ›Landverkauf‹. Sie holt tief Luft, um unbeabsichtigt ihrem Naturell und ihrer Überzeugung zu folgen, um ihre Position in sachlicher und anteilsrechtlicher Angelegenheit deutlich zu machen, obwohl es ihr menschlich zuwider ist. Sie kann es nachvollziehen, egal, was sie davon hält.
In dem Moment tutet es zweimal helfend im vertrauten Ton der unter Dampf fahrenden Schmalspur-Bäderbahn, die aus Bad Doberan und Heiligendamm kommend gleich am Bahnhof Kühlungsborn Ost einlaufen wird.
Sandy sieht in die Richtung des Tutens, ohne die Bahn ›Molli‹ zu sehen. Sie verfolgt mit den Augen die angenommene Position des fahrenden Zuges auf der Strecke hinter den Häusern, in einer langen Kurve bis zur Doberaner Straße.
Hanna hat sich wieder im Griff und lässt, aus ihrer Sicht, die Zügel übertrieben schleifen. „Kind, das tut mir leid. Wenn ich irgendetwas tun kann ...; du weißt, ich bin da.“
„Danke Mutti. Es muss ja. Wir hatten uns darauf eingestellt, dass es allmählich in ruhigeren Bahnen laufen würde. Pustekuchen. Ständige Veränderungen; beruflich. – Privat tut er so, als würde alles weiterlaufen wie bisher, obwohl die Kinder fast aus dem Haus sind. Na ja, im Moment spielt er Karten mit seinen Freunden, da kann er abschalten.“
„Ich verstehe“, sagt Hanna in einer bei ihr rar gesäten, nahezu lautlosen Zurückhaltung, und sie im Vermeiden von Unnötigem oder Deplatziertem ihr Gespür für den Moment beweist. Sie ist da – zugänglich und belastbar. Es scheint ernster zu sein. Da Gerda Finow sie darauf angesprochen hatte, ist die Gesprächslage im Ort eindeutig. Eine eheliche Unstimmigkeit wäre für Hanna eher nachzuvollziehen, als vor dem Sanddornsterben den Schwanz einzuziehen.
„Eine Achterbahn. Pff. Und Molli wird weder bis Rerik noch bis Warnemünde ausgebaut. Das würde allen nützen.“ Sie dreht sich nach dem Gesagten gestenreich und übertrieben suchenden Blickes um. Wie früher, den aus heutiger Sicht zu schnell vergangenen Jahren, mit der Kinderschar ihrer Tochter nahezu bei jedem Schritt um sie herum; nervend und geliebt. „Wo sind meine Enkelkinder?“
›Ehe bleibt Privatsache, bis es brenzlig riecht. – Und selbst dann. Sanddorn ist ein ganz anderer Schnack.‹
An dem Thema der Steinfrucht beißen sich die zeitgenössischen Generationen gerne die Zähne aus und es ist unwahrscheinlich, mit phrasenbasierten Spielmodellen die Chance zu haben, bis an das Problem vorzustoßen. Hanna käme in der Teilnahme weder mit Trost, Verharmlosung oder einer aus dem Hut gezauberten Lösung, die es nicht gibt, voran.
„Und zuhause? Nach der Garage zu urteilen, sind alle deine Sprösslinge ausgeflogen; zumindest die Nachrücker, die noch nicht ausgezogen sind – und diejenigen, die ab und an wieder da sind, weil sie sich spontan von ihrer großen Liebe getrennt haben – und Trixi. Wie konnte ich sie zuletzt nennen?“
„Es fließt auseinander. Das waren übersichtliche Zeiten, als sie keine Führerscheine hatten und zuhause wohnten. ... Und mit deren Tante seit Teenagerzeiten umgekehrt, weil sie schon immer mehr unterwegs war.“
„Es war perfekt“, bestätigt Hanna in der Gewissheit, dass sie mit dem Feiern der gewonnenen Freiheitsgrade eher ein Störfeuer als ein Leuchtfeuer entfachen würde, und bläst dasselbe Horn. „Mit den Fahrrädern kamen sie nicht weit und sie hatten ihre Stammstrecken und Stammplätze – wie da vorne am Strand, mittendrin im Getümmel zwischen den Touristen.“ Sie zeigt zum winterlich vereinsamten Strandabschnitt Drei. „Das haben sie von ihrer zügellosen Tante.“
„Und, wo werdet ihr hingehen?“ Sandy kommentiert die gebremsten Eskapaden zur Stimmungsaufheiterung ihrer Mutter nicht umfangreicher als es die ›Jaja‹-Höflichkeit gebietet, sondern packt aufmunternd seitlich an Hannas rechten Arm und streichelt ihn durch die gewachste Jacke. Mit der anderen Hand tätschelt sie ihren Hund, der sich vor sie gesetzt hat und zu ihr aufsieht.
„Die Sonne scheint und die Sonnenplätze in den Strandkörben haben die guten Plätze mit Blick auf die Ostsee freigesogen. Ich habe freie Bahn und gute Sicht.“
„Lass die Leute. Es gibt genug, die es genießen. Die See liegt im Nordosten, da kommt mittags und nachmittags kein Sonnenstrahl aus Dänemark oder Finnland.“
Hanna wendet sich von ihrer Tochter ab, dreht sich mit der Vorderseite in den Wind, macht einen halben Ausfallschritt nach vorne und lässt Sandy auf Lee versauern. „Ist die frische Brise nicht herzerfrischend?“
„Büschn kühl is schon.“
„Dreh dich um, in die Sonne!“
„Mutter, hör auf zu stänkern. Du genießt es genauso, wenn es wärmer wird; damit du im Garten buddeln und schnippeln kannst, weil sich angeblich das Gesamtbild täglich ›dramatisch‹ verändert, wo andere keinen Unterschied erkennen“, Sandy beugt sich zu ihrem Dalmatiner-Mischling runter: „Mäuschen, du gehst mit der Oma. Bestimmt kriegst du was Feines. Ich hol dich gleich wieder ab.“
„Kind, lass. Ich bring ihn mit nach Hause. Er liebt es, offen zu fahren.“ Sie spitzt die Lippen und nickt dem Hund zu: „Nöch, min Schieter? Wir sind allein, da darfst du auf den Beifahrersitz. Dein Geschirr und Kissen liegen auf der Ladefläche. Möchtest du bei Jean vorne sitzen?“
„Wuff“. Das Thema ist erledigt.
„Bis dann!“
„Fahrt vorsichtig! Hast du genug Strom?“
„Nein, für die sieben Kilometer bleibe ich am Netz und rolle unterwegs eine Kabeltrommel ab.“ Hanna macht eine abfällige Handbewegung, die sie mit einem eleganten Crescendo ausführt und ein ›Voilà!‹ im bescheidensten Selbstverständnis zum Ausdruck bringt. „Kind, bitte. Meine Fahrzeuge laden nachts.“
Hanna hat ihre allgemein bekannten Zeiten, nach Kühlungsborn zu fahren, um dort eines der Lokale in einem winzigen Akt von familienbefreiender Wirkung aufzusuchen. Sie sieht auch bei dem Mietobjekt, das sie in der Stadt haben oberflächlich nach dem Rechten und spricht mit den Mietern. Der Hof des Hauses hat einen Charme wie der Bahnhofsvorplatz einer Pariser Trabantenvorstadt. Er ist zugepflastert für Stellplätze, Anlieferung und Müll. Die Schlingdorffs hatten es gewollt, in den Vertrag gedrückt und selbst umgesetzt. Sie kennt sie lange, aber es bleibt ein Dorn im Auge, der darauf wartet, gezogen zu werden. Das ›Wellenglück‹ liegt in der Strandstraße, nahe am Wasser, mit dem Bekleidungsgeschäft im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss, zwei Ferienwohnungen, hinten raus und eine im Dachgeschoss mit kleinen Terrassen.
Hanna sitzt mit dem Hund zu ihren Füßen im Café am Hafen und sieht auf die See hinter den Booten geringer Zahl, die an den Liegeplätzen im geschützten Hafenbecken dümpeln. Nicht mehr als sechs Wochen und der Saisonbeginn zeigt sich durch seinen Ausruf und durch massiven Besatz an einem verlängerten Wochenende. Das Gros der Yachten liegt erst annähernd drei Monate vor den Badegästen im Wasser. Hanna sitzt landseitig der Strandpromenade. Wasserseitig stehen unterhalb der als Sitzstufen abgetreppten ›Zwischendecks‹, die eine gefühlte Absturzhöhe zum Hafenniveau entschärfen, pro Tisch ein Strandkorb. Die Körbe sind sämtlich von unverblümt Sonnendurstigen belegt.
›Es hat was Andächtiges zu dieser Jahreszeit‹, sinniert sie, ohne einen Gedanken an ihren Bruder, dem Freund der direkten Ansprache, zum Vergleich herbeizuziehen. ›Im Sommer brutzeln sie sich die Pelle rot, danach ist die Haut trocken-lichtgrau und flattert in durchscheinenden Fetzen wie Späne von Parmesan an der Pizzeria vorbei; ein gern übertriebener Genuss. In den frühen, vom Wetter her verträglichen Sonnentagen verharren sie militant sehnsuchtsvoll und gehorsam, als hätte der Hausarzt ihnen Sonne verschrieben, damit sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dieses Jahr lebend zu überstehen. Anders als die letzte Bastion gegen den Verfall, sucht Hanna auf ihrem Weg Momente, Ereignisse, Dinge und Menschen aufgrund einer direkten Lebensbereicherung, die sie als Genuss bezeichnet. Sie nutzt nun den Aschenbecher, der ihr bereits hingestellt wurde, bevor sie sich setzte, und eine freundliche Servicekraft, die sie seit Jahren kennt und mit der sie sich ausgezeichnet versteht, weil sie eine ähnliche Wellenlänge haben, bringt einen Cappuccino, ohne dass sie diesen bestellt hatte.
„Hallo Hanna.“
„Hallo Irmi. Danke.“
Irmingard lächelt und ist wieder weg. Obwohl es nicht proppevoll ist, bewegen sie und ihre Kollegen sich mit der gleichen Geschwindigkeit und dem Rhythmus der Hauptsaison, auf die sie sich mit gemischten Gefühlen einstellen.
Hanna liebt den Blick auf die Ostsee, wenn er frei von jeweils herausfordernden Störgrößen ist. Die Leere des Bildes erfüllt sie mehr als eine Ladung Schüttgut von Einzelschicksalen. Mit fortschreitendem Alter ist sie dankbarer, nicht zur zwangsweisen Bewertung von Personen durch deren bloße Präsenz animiert zu werden. Sie bleibt nicht lange. Die Außentemperatur gibt ihre Trinkgeschwindigkeit in Windeskälte vor. Auf den Stühlen liegen wärmende Decken bereit, die sie ab und zu nutzt, wenn es an Sommerabenden auffrischt. Im März hingegen ist eher mit durchgehender Kälte zu rechnen und Hanna ist angemessen, in einer unprofessionell umgesetzten Zwiebelschalentechnik umhüllt. Sie mag keine Kunstfaser auf der Haut und das Regencape liegt mit einem Band angetüddelt auf der Ladefläche von Jean.
›Gleich etwas Schneckenprophylaxe pflanzen und später lesen. Nächste Woche muss ich dringend in die Buchhandlung. Ich habe nur noch ein Ungelesenes. Das wird knapp. Hoffentlich finde ich was in der Bestsellerliste. Der Garten ist ansonsten in Schuss. Helga sollte sich mit dem Pinguinstreicheln beeilen. Dann hat sie noch was davon.‹
Ihr Blick fokussiert gemächlich und sie betrachtet die See. „Na, meine Schöne.“ Sie lächelt zum Hochseerettungsschlepper BALTIC, der auf seiner Bereitschaftsposition draußen auf dem Meer ist. Ein Regenbogen scheint ihn zu treffen, sich von dort über der Seebrücke aufzuspannen und weit bis nach Kühlungsborn West zu erstrecken.
„Ja, du bist auch eine Schönheit“, sagt sie zum Hund, der aufgesprungen war und sie ansieht, weil er – wie ihr Schwiegersohn Gerd – gewillt ist, sich bei Komplimenten oder Lob angesprochen zu fühlen. „Da du stehst, wollen wir los?“
„Wuff. Wuff. Wuff.“
„Schon gut, steigere dich nicht rein.“ Sie dreht den Kopf zum Eingang, um eine Servicekraft abzufangen.
„Möchtest du noch was, Hanna?“, fragt Irmingard, die aus der entgegengesetzten Richtung kommend, im Begriff war an ihr vorbeizueilen.
„Kann ich zahlen, bitte?“
„Bar, wie immer?“
„Si“, bestätigt sie in gebrochenem Italienisch. „Und? Wie ist die Stimmung? Noch kein Grund zur Klage?“
„Die beste Zeit im Jahr“, sagt Irmingard. „Der Umsatz ist mau. Das merken wir auch am Trinkgeld. Bald geht es wieder los. Die Umsätze steigen und die Stimmung geht in den Keller. Du kennst es ja. Erst die frühen Vögel mit der diesjährigen Erstbesteigung ihre Balkone in den Zweitwohnsitzen – der Jahreswechsel zählt nicht, da sind sie ruhiger als sonst. Aber wenn es wärmer ist wollen sie, dass auch wirklich jeder mitbekommt, dass sie wieder da sind. Dann die Touristen mit Kindern. Da ist alles in Ordnung. Die Kinder sind im und am Meer und es wird auf den Preis geachtet. Danach kommen die mies gelaunten Alten auf Nebensaisonschnäppchenjagd, gefolgt von den mir am ›liebsten‹ Gästen, die duzenden ›Bring mir mal eben ...‹-Spaßvögel. Auch schlecht gekleidet aber teurer und zum Kotzen ungeduldig und laut.“ Während sie das sagte, verzog sie ihre Mimik entsprechend der Erwartungshaltung ihrer jeweils beschriebenen Gäste.
„Ach“, ist Hannas Kommentar zu einer wenig überraschenden und jedes Jahr ähnlichen Schilderung.
Irmingard drückt auf das elektronische Gerät, das sie bei sich trägt und Hanna bezahlt.
„Danke.“
„Danke dir.“
„Schönen Tag.“
„Dir auch. Bis morgen.“
Das Ende des Dialoges der beiden Frauen ist immer gleich. Bei der finalen Verabschiedung ist es egal, wer was sagt, es sei denn, es stünde ein Termin wie Arztdiagnose oder Beerdigung an. Das ›Bis morgen‹ ist als ein ›Willkommen‹ zu verstehen, nicht als Handlungsaufforderung.
Hanna geht mit dem Hund ein ganzes Stück die Strandpromenade entlang, an der Seebrücke vorbei zu ihrem Auto. Wie ihre Gartenarbeit, ihr Reinlichkeitsdrang und ihr umtriebiger Geist halten die kleinen Spaziergänge sie fit und die Aussicht auf die Ostsee, die in einem sattem Dunkelblau mit weißen Wellenkämmen vom Wind beschäftigt wird, ist einer der bewegenden Gründe für ihre Sesshaftigkeit.
Sie greift nach dem Kissen auf der nicht einmal einen Quadratmeter messenden Ladefläche und legt es auf den Beifahrersitz. Auf ein ermunterndes Kopfnicken hin, springt der Hund auf den Sitz. Das Geschirr hinter ihm wird losgetüddelt und sie schnallt den erwartungsfrohen Vierbeiner, der zumindest die Wichtigkeit eines bevorstehenden Weltraumfluges im Gesicht trägt, an, kontrolliert die Straffung der Gurte, steigt ebenfalls ein, nickt dem aufrecht sitzenden Tier zu, setzt zurück, schlägt ein und braust mit etwa fünfunddreißig Stundenkilometern davon.