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Brunshaupten

Sieben Damen auf der Hand

 

„Null!?“

„Ich bin weg! Spiel!“

„Jetzt spielt er schon wieder!“, sagt ein Landwirt in den Fünfzigern ohne einen Anflug von leidgebeutelter Erregung. „Wo waren wir?“

„Bei null“, antwortet Steffen mit weiterhin gesenktem Blick. „Das ist nicht nichts.“

„Auch das noch!“

Für norddeutsche Verhältnisse erreichen die Emotionen auf eine irreführend tiefgründige Art in der sorglos abtastenden Frühphase des Spiels, beim Reizen, einen Höhenflug, der einen Defibrillator missen lässt – wenn dem Urteil pulsarmer Gleichmut und nicht das Quellen mediterraner Streitkultur, die sich hierher selten verirrt, zugrunde liegt.

Wie jeden Samstag um vierzehn Uhr sitzen die zwei Ehemänner auf der in die Jahre gekommenen, dunkelbraun lackierten Eckbank mit den dünnen, haltlosen Sitzkissen und Steffen, der Längste, auf einem der raumseitigen Holzstühle mit der balusterhaft aufgelösten Rückenlehne, im Gasthof am Fuße der Kühlung. Wer den Raum seit Jahrzehnten kennt, wittert die Patina aus Rauch und Erinnerungen, die nur oberflächlich gesäubert, begradigt und überstrichen wurde. Es ist nahezu menschenleer – in der Region – und im Gastraum, der dreieinhalb Kilometer entfernt von den im Sommer eindrucksvoll belebten Strandabschnitten des Ostseebads Kühlungsborn ist, wo die Stube ihre Insassen vor dem Winter schützt. Der Wind pfeift in einschneidender Kälte um das bescheidene Haus, als seien alle Verhandlungen auf das Konservieren von Restwärme endgültig gescheitert. Er sucht Schwachstellen und zieht die Wärme raus, sobald sich die Tür öffnet. Die Fluktuation ist nahe null und der Raum ist stark beheizt. Gerd, der großgewachsene, kräftig gebaute Landwirt, befreit sich im Sitzen von seinem dicken, dunkelblauen Pullover, der wegen des Reißverschlusses im oberen Bereich geschlossen als Rollkragen oder offen, mit breitem Revers getragen werden kann, über den graumelierten Kopf mit dem slawisch-kantigen Gesicht und legt diesen neben sich auf die Bank.

Gerds Telefon klingelt mit einem Ton von der Stange. „Entschuldigt, mein Steuerberater. Ich geh‘ kurz ran.“ Er steht auf und bewegt sich in den Flur, wo einst der Zigarettenautomat stand und einige Jagdtrophäen bewundert werden konnten, während man auf dem Weg zur Toilette oder zum Lager war.

„Moin Peter.“ ... „Sicher bin ich noch dein Mandant.“ ... „Ich habe keinen Schimmer. Diesen Sommer muss es geregelt sein.“ ... „Ja, ums Verrecken hänge ich an dieser Ernte. Was Corona mit den Urlaubsgästen gemacht hatte, macht ein Pilz oder was auch immer mit meinen Pflanzen. Auch bei mir kommt die Hauptsaison, ohne dass ich ernstzunehmende Einkünfte in der Nebensaison hätte.“ ... „Belasten? Wie oft soll ich dir das noch sagen?“ ... „Ich weiß, aber der Günstigste bist du beileibe nicht.“ ... „Wert sein kann einem nur etwas, das man hat oder sich leisten kann.“ ... „Du, ich hab gerade einen Termin. Wir schnacken.“ .... Gerd legt auf und kehrt an den Tisch zurück.

„Und? – Will er Geld?“

„Was sonst? Er nennt es Mandantenpflege, ich nenne es Blutsaugen. Als hätte ich Bratensoße in den Adern. Ausgerechnet jetzt, wo noch alles ruhig sein sollte, nervt der mich.“

Vorsaison bedeutet Stille. Der Sommer, die Haupturlaubszeit an der Ostseeküste, ist unweigerlich aber mit nicht bekannter Schlagkraft im Anmarsch; die Vorboten lassen auf sich warten. Landwirtschaft und Tourismus setzen dem Gefühl der Vorfreude einen existenziellen, regionalen Fokus an die Flanke, der die kommende Entwicklung der Farben und den wechselnden Ausdruck des Meeres in der Wahrnehmung verstärkt. Seit Jahreswechsel bewahrt kein Einheimischer romantisierend die fortschreitende Vernarbung der frischen, sehnsuchtsvollen Erinnerungen an wärmere, lichtere Momente. Der Blick nach vorne, in die neue Saison mit ihren Chancen und Risiken ist, was die Vernunftbegabten antreibt. Entgegen der Vernunft ist die Stimmung in der Region der Bedächtigkeit näher als der Attacke. Kapuze zuziehen, statt Ärmel hochkrempeln. Sie bewegen sich auf einer gewählten Asymptote in Schlagdistanz zu der ansteigenden Kurve, auf die sie springen, sobald verschiedene Einflussgrößen die Motoren des Tourismus aus dem Standgas heben. Die Tage werden seit drei Monaten wieder länger. Das Wissen darum ist ein Trost des Innehaltens in der Kälte Atem, der einen Augenblick vergessen lässt, dass durch die Schönheit der Landschaft nahezu die gesamte Region in der Unterhaltungsbranche tätig ist. Es Tourismus zu nennen, käme den Anforderungen der Branche und dem Charme von Kühlungsborn nicht gerecht; es ist mehr. Für die Einheimischen und diejenigen, die damit arbeiten, ist es Segen und Unsicherheit, weit entfernt von Fluch und Unterdrückung. Nicht vorbildlichem Benehmen wird mit neutralem Desinteresse bis zur offen vorgetragenen Abneigung in enthaltsam norddeutscher Beredsamkeit präventiv begegnet.

Ein schriller, langgezogener Ton heult durch die Luft. Einen halben Kilometer entfernt schnauft und pfeift die dampfgetriebene Bäderbahn, die im Winterhalbjahr alle zwei Stunden vorbeifährt. Die Gegend um Kühlungsborn, mit der topografischen Besonderheit, der erhabenen Kühlung, ist der Zustellungsbereich des legendär anmutenden Verkehrsmittels ›Molli‹. Aus der tapfer rotierenden, Kondensat schwitzenden und übereifrig pfeifenden, zierlichen Maschine konstituieren Pedanten, die sich nicht anschaulich um Personifizierungen und Herzensangelegenheiten scheren, aus dem Wortstamm des Molochs, einem maskulin determinierten, stählernen Dampfross, schlussfolgernd einen Kerl. ›Der Molli‹. Einst Ehrfurcht gebietend und in seiner Leistungs- und Gewichtsklasse respektiert, ist das Gefährt heute den Versuchen nostalgisch-romantisierender Verniedlichungsformen unterworfen. Dem Maschinchen scheint es egal zu sein, indessen es dampfend, in Erinnerungen an den G7-Gipfel in Heiligendamm, wohin die fünftausend Journalisten, die in Kühlungsborn nächtigten, auf der Schmalspur zur Arbeit gependelt waren. Die Bäderbahn hat alles mitgemacht. Aufstieg und Verharmlosung, Eleganz; sie war und ist Familienkutsche und fuhr vor und nach der Wende durch Engpässe, begleitet von Bekenntnissen zum jeweiligen Zeitgeist.

Über räumliche Bezüge hinaus ist ›Molli‹ eine vitale Erinnerung an historische und gesellschaftliche Veränderungen. Es ist nicht ausschließlich unterhaltendes Transportmittel auf schmaler Spur. Es ist ein Teil unserer wohlmeinenden Auseinandersetzung mit uns selbst, ein Zeugnis vergangener Zeiten ohne Bildungsauftrag. Und wenn es durch die Landschaft dampft, erzählt es von einer anderen Tiefe dieser speziellen Urlaubsregion – liebevoll und unvergesslich.

In der frostigen Kälte, zwischen den Atemzügen und dem steten, kräftigen Herzschlag, liegt ein Trost, das Wissen um die Schönheit der Region. Es existiert mehr, als die Tourismusbranche es zielführend beschreiben könnte, ein scheinbar anarchisch unorganisiertes Gefüge ungleicher Gefühle, die sich den nüchternen Anforderungen entziehen.

Am heutigen, sonnenarmen Sonnabendnachmittag sind sie die einzigen Gäste im Gasthof. Jede Woche spielen sie Skat in dem winzigen Raum. Gerd, der Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebes, der sich hauptsächlich mit Aufzucht und Verarbeitung von Sanddorn beschäftigt, der Tierarzt Dr. Steffen Grabow aus Kühlungsborn-Ost und der Malermeister Heinrich Berkel aus Bad Doberan kennen sich seit der Schulzeit, und wenn eine ausgelebte Gemeinsamkeit Bestand in ihrem bisherigen Leben hat, ist es ihre Skatklopperei, die sich früher nicht auf Samstage beschränkte. Skatspielen war und ist für sie Anlass, beieinander zu sein und irgendetwas in Händen zu halten, während sie sich über alles außer Gott unterhalten. Sie kommunizieren, wie sie spielen. Nicht mit letztem Einsatz. Nicht mit erheischendem Biss. Sie hatten zu keiner Zeit Veranlassung, in Wettstreit zu treten, oder dass ihre verschiedenen Ansichten sie in einem dauerhaften Konflikt trennten. Das Blatt und der Sieg waren und sind unwichtig. An impulsiven Entscheidungen, die sich nicht mehr korrigieren ließen, fehlt das Interesse.

Das neue Jahr hatte die letzten Wochen genutzt, um gemächlich die Aggregate hochzufahren. In den jeweiligen Betrieben der drei Männer läuft es zurzeit willentlich und passiv beruhigt. Die Neigung, den Maler zu dieser Jahreszeit im Haus zu haben, ist nicht überschäumend, es sei denn, man zöge aus. Die Nachfrage ändert sich schlagartig mit dem Wetter. Das Frühjahr bringt den Stress für Heinrich Berkel, den er gewohnt ist und der in allgemeiner Übereinkunft als Teil seiner Arbeit bezeichnet wird, wenn seine acht Mitarbeiter witterungsbedingt und logischerweise mehr auf dem Gerüst wären und in geringerem Maße in den Häusern und Wohnungen. In einem Urlaubsort mit tausenden von Ferienwohnungen ist das anders. Das liegt nicht an den Ferienapartments und Gästehäusern als Zahl von Objekten. – Die Hotels lassen im Winter streichen und reparieren. – Es sind die zahlreichen privaten Eigentümer, die jedes Jahr erneut von der Saison nicht überrascht, sondern überrollt werden und ihre Wirtschaftlichkeitsberechnung, bezogen auf den jeweiligen Objektzustand neu anstellen und mögliche Eigenleistungen – ein Fehler in Bezug auf die Sozialgemeinschaft – versuchen zu berücksichtigen. In einer Art Notrettung rauscht Heinrich Berkel schließlich doch an, bevor die Gäste kommen, die sich beschweren könnten.

Beim Tierarzt Steffen Grabow, seines Zeichens Doktor, was er gern erwähnt, ist die Praxis bis auf Notfälle und Geburten geschlossen, weil er es will. Er hat reduzierte Sprechstunden und ist auf dem zweiten Handy erreichbar, um das Sicherheitsgefühl seiner Tierhalter nicht zu schmälern. Das Winterloch merkt er auf den umliegenden Gestüten und Reiterhöfen und beim fehlenden Andrang zum Impfen der Haustiere. Einladungen für Auffrischungsimpfungen und Kontrolluntersuchungen bei chronischen Leiden gehen weiterhin raus. Supersüße Welpenpostkarten an das vertraute Familienmitglied adressiert. ›Paulchen hat Post von seinem Arzt bekommen‹ offenbart in einem Satz das Dilemma, in dem wir als Entscheider über die Aufnahme noch fremder Menschen in unsere Gemeinschaft stecken. Alle häuslich geprägte Rührung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass zur Urlaubszeit und spätestens bei kostspieligen Behandlungen auch die vertrauten Wesen häufiger auf Autobahnrastplätzen sich selbst überlassen werden.

„Gerd, Alter! Aufwachen! Hast du wieder nur dein Steinobst im Kopp? Von allein löst sich dein Problem nicht.“

Gerd Baller ist anwesend, aber nicht präsent; ansprechbar aber im Moment nicht kommunikationsfreudig. Er hatte sich im Hauptgeschäft vor fünfundzwanzig Jahren schicksalhaft dem Sanddorn verschrieben und ist, in unterschiedlicher Form und Intensität, ständig mit dem Hof beschäftigt. Es sind die Fremdeinflüsse, die den Arbeitsalltag bei saisonalen Ernten gestalten. Das unterscheidet seinen Betrieb im Grunde nicht von Hotels, wenn diese im Hochsommer ausgebucht sind. Zurzeit gäbe es für Gerd und seine Mitarbeiter nichts außer dem winterlichen Rückschnitt der Pflanzen, um hohe Erträge sicherzustellen, genauso, dass sie nicht zu ausladend wachsen, weil die inneren, verholzten Äste keine Früchte tragen. Diese bilden sich goldorange ab Juli und August an den frischen Trieben in üblicherweise rauen Mengen, die Äste wie mit Perlen ummantelt.

Der Strauch ist die Kulturpflanze der Region. Ihr ausuferndes Wurzelwerk verschafft dem kräftigen, dornigen Busch, der in der Wildnis anstelle eines Plantagenbetriebs steht und ungestutzt, bei geringerem Ertrag und miserabler Erreichbarkeit der Früchte, eine Höhe und einen Durchmesser von über fünf stattlichen Metern erreicht, einen sicheren Stand. Er liebt karge, sandige Böden. Sind diese minimal salzig, duldet er es leidlos. Es gibt nicht viele Pflanzen, die sich mit ihm um die lebensnotwendigen Plätze an der Sonne, auf den Dünen, an der See streiten.

›Wenn ihr wüsstet, was ich im Kopp habe und nicht auf dem Konto, würdet ihr nicht so sorglos dahersabbeln und so tun, als gäbe es keine echten Probleme auf der Welt.‹

Gerd pflegt eine bisher romantisierende, seit drei Jahren ungewollt romantische Leidenschaft für das dornige ›Gestrüpp‹, wie er es in sorgenvollen Momenten nennt, um in seinem Schaffen das Leid zu überspielen. Zunehmend erweitern sich die Arbeiten im Winter über den Rückschnitt hinaus. Eine Krankheit lässt die Pflanzen sterben. Die Ursache ist nicht ermittelt und eine Lösung nicht gefunden. Es bleibt ihm das Ziehen der toten Büsche. Der Ausfall ist immens und seine Produktionsstätten sind nicht ausgelastet. Die Vielfalt der Weiterverarbeitung hat es ihm angetan und er hat sich zu einem Experten in Anbau und Verarbeitung entwickelt. Die Neuzüchtung überlässt er spezialisierten Zuchtbetrieben, die seit den Siebzigerjahren höchste Ertragsprognosen aus dem Strauch und der Frucht herausholten. Sein Familienbetrieb stellt nahezu alles her, was aus Sanddorn zu produzieren ist. Sogar Produkte ohne wirtschaftlichen Nutzen sind ebenfalls in der Palette enthalten, weil sie dazugehören und das Gesamtbild dieser vielseitigen Nutzpflanze abrunden, wenngleich sein Schwerpunkt bisher auf Nektar lag. Die Kapazität der Produktionsanlagen übertrifft die eigene Ernte um das Zehnfache. Es hatte sich entwickelt. Die einzelnen Anbauflächen, die Plantagen der Bauern sind in der Region, solange es sich nicht um Rapsfelder handelt, fast mickrig und ein Flickenteppich unterschiedlicher Nutzung. Gerds angeheiratete Familie ist mit den anderen Sanddornbauern bestens vertraut, mit einigen entfernt verwandt. Er kauft abgeschnittene Äste mit den Beeren für die Verarbeitung hinzu, bevor er sie runterfrostet. Eine Abrechnung über das Ladungsgewicht oder das Volumen ist wegen des Astwerks ausgeschlossen. Es ist Vertrauenssache.

›Ja, ja. Die liebe Verwandtschaft jammert selbst rum, obwohl sie ausgesorgt haben. Die kriegen mehr als nur Pacht – und ich mache die ganze Arbeit auf ihren Feldern. Alles pensionierte Bauern im Nebenerwerb. Pff.‹

Das Idyll aus üppiger Natur, das er zu Hause hat und für das weniger er als seine Frau und Schwiegermutter sich verantwortlich zeichnen würden, gibt eine Art der Normalität wieder, die einem älteren Menschen die Erinnerungen an das barfüßige Laufen in kurzen Hosen auf heißen Sandwegen, umgeben von blühenden Landschaften wachrufen. Ein gegenwärtiges, lebendes Pendant zum schwelgenden Betrachten vergilbter, vignettierter Fotos, die ihren die Vergangenheit hochwertenden Wellenrand von der Büttenschere haben. An Kühlungsborns Küste floriert es jahreszeitgemäß durchgehend, was durch die heftige, wenngleich kurzzeitige Dominanz der Rapsblüte eine Wertschätzung des Alltäglichen fordert und in Ostdeutschland noch in verschiedensten Lebensbereichen, gleichwohl in Arbeit, Freizeit und Urlaub in unkommentierter Selbstverständlichkeit erfährt.

Bei Familie Baller zuhause, auf dem Glowatz’schen Hof, ist ein Großteil der Vorbereitungen für das prachtvolle Blütenmeer unterschiedlichster Teilnehmer in den ergänzenden Zügen. Es blüht dort seit Generationen. Der ›raue‹ Glowatz, der neunzehnhundert-vierundsiebzig verstorbene Vater von Gerds Schwiegermutter Hanna war ein praktizierender Nazigegner und Kommunist im geplanten Tausendjährigen Reich. Er verlor den Hof unter tiefreichenden Repressalien im Beiwerk der Arisierung und erhielt ihn in der frischen Deutschen Demokratischen Republik, in der er zum Helden des Widerstandes erklärt wurde, zurück; politisch korrekt ohne die zahlreichen nach Großbürgertum anmutenden Ländereien von Mitgliedern seiner alteingesessenen Familie, von denen zu viele die Kriege und ihre vergifteten Wehen nicht überlebt hatten. Er war unantastbar und müde vom stereotypen Geschwafel von lüsternen Schergen einer Staatsgewalt. Den etablierten, Formaldehyd-getränkten Pöstchensozialismus hatte er verlacht und trat den Liberalen bei; bis zu deren Blockpartei-Assimilierung. Er scherte sich nicht um landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften wie die LPG Waterkant oder LPG Helmut Just. Das Land, direkt am Hof liegend, das er mit diesem zurückbekam, genügte ihm. Er arbeitete offiziell in der Neptun-Werft in Rostock und war trotz seiner Haltung, gewichtiger wegen seines Ansehens, Betriebsrat. Seine Kinder wuchsen auf dem Hof auf. Hanna übernahm und erweiterte ihn nach der Wende durch Rückübertragung weiterer, ehemals enteigneter Immobilien der Familie oder durch das Nutzen von Entschädigungsleistungen. Ihr Bruder Peter entschied sich fürs Pfarramt. Bei dem Sohn eines Volkshelden war das den Volksvertretern nicht genehm. Man kehrte den Fall argwöhnisch billigend unter den Läufer auf dem Linoleum, das aufs Fischgrät-Eichenparkett geklebt war, weil behelfsweise ein Altbau für Verwaltungsangelegenheiten hergehalten hatte. Aus einer falschen Scham, die in atheistischer Fremdbestimmung das jüngste Gericht fürchtete, sahen sie aus dem Fenster, neben dem in Schulterhöhe ein Fries aus Boizenburger Wandfliesen mit aquatischen Jugendstilmotiven, beidseitig die Flure schmückte, den Himmel suchend, auf ein frühes Werk norddeutscher Backstein-Sakralgotik.

Peters Schwester Hanna ließ ihr Zuhause erblühen, sobald sie Zeit fand. Trotz scheinbarer Wildheit steckt eine gärtnerische und ästhetische Ordnung mit einer Menge Arbeit in dem steten Wechsel von floraler Pracht und dem Welken. Die schöpferische Kraft liegt in der Anmut der Übergänge zwischen dem Entstehen an einer Stelle und dem Vergehen an anderer oder gleicher. Die Veranschaulichung des Wandels, ohne das Vergängliche wegen seines Niedergangs hochleben zu lassen, wenn nicht kaschierend zu überspielen. Gäste zeichnen eine herausragende Standortqualität für das als zufällig entstanden gewertete Meer der Farben, Formen und Gerüche verantwortlich, billigend Kleinigkeiten ignorierend, wie, dass nicht exklusiv bei Rosen der Rückschnitt nach der Blüte im Mai das Initial ist, alle Kraft in eine zweite, im September zu stecken.

Im März ist die Hoffnung auf eine botanische Explosion eher gering, wobei an manchen, sonnenreichen Tagen es wie ein Kribbeln ist, als würde die Vegetation testweise aufwachen, verhalten, um ohne einen geschwellten Brustkorb Luft zu holen und sich mit tastenden Zehen haarfeine Vorstöße ins Frostfreie wagen. Gerd freut sich in diesen Momenten, losgelöst von seiner professionellen Sicht über das Pflanzenreich auf die sich andeutenden farbenfrohen Veränderungen und das bevorstehende muntere Treiben der Insekten und Vögel. Es geschieht, wie es sich jedes Jahr wiederholt, und bleibt ungeachtet alledem eine Kette von wundernahen Ereignissen. Gerd würde sich nicht in landwirtschaftlichen Jubelstürmen ergießen, sollte er fortan in Äquatornähe leben und auf Jahreszeiten verzichten. Fünfhundert Kilometer nach Norden wäre ihm ein zu schlagartiges Maß der Spannungslösung und eine zu komprimierte fruchtbare Zeit, in der Aufstieg und Untergang so nahe beieinanderliegen, dass Saat und Ernte von Dauerkopulationen unterschiedlichster Spezies begleitet sind. Wie es sich bei ihm geoklimatisch verhält, ist alles im Lot. – Und dennoch ist es dieselbe Last von Faktoren, die bleiern auf seiner Brust liegt und seine Atmung und Bewegungen bis annähernd zum Stillstand einschränkt.

Wenn man ein Bauernhaus und einen pflanzenbasierten landwirtschaftlichen Betrieb hat, ist es naheliegend, sich der Natur zu widmen. Es hilft, ausschließlich Bioqualität zu ziehen, sofern die erforderlichen Preise erzielbar sind. Eine breite Produktpalette und die Erhaltung der sogenannten Biodiversität sind die Schlüssel für manche kleineren Betriebe, die weit entfernt davon sind, sich mit den Agrar-Bewirtschaftungskapitalgesellschaften zu messen, weder operativ in Hektar pro Mann noch in den Subventionen. Gerd hat keinen Kleinbetrieb, er hat viele versprengte Teileinheiten zu bewirtschaften, die er nicht mit großem Gerät beackern kann.

Es muss blühen. Einleuchtend ästhetisch wie einprägend vergänglich. Gerd, Vater von fünf Kindern, in der Funktion des Moderators dazwischen, um Chancengleichheit für Ertragsstabilität bemüht.

Aus Sicht der Nutztierhaltung stehen bei Ballers zuhause massenhaft mehr Blüten, als erforderlich sind, um den auf dem Hof befindlichen Bienenvölkern Nahrung zu liefern, um den gewonnenen Honig mit Sanddornmark anzureichern. Es sieht nicht aus dem Grund nett aus, weil es ein Markenzeichen der Region ist, die Natur zu schätzen. Gästezimmer sind auf dem Hof. Ein Idyll bringt Gäste. Ein Beständiges kreiert Stammgäste. Diese bringen Planungssicherheit und reduzieren durch ihre durchschnittlich längeren Aufenthalte den Verwaltungsaufwand und die Reinigungspauschalen nach einem Wechsel. Der Kontakt zu den Urlaubern, die auf dem Hof leben, ist herzlich und häufig. Sie haben Zeit, Freizeit, und genauso ist technisch gesehen jedes Gespräch mit ihnen Arbeitszeit, deren Abrechnung nach Mindestlohn auf verschieden dargebrachte Ausprägungen von Unverständnis in einem zerstörten Weltbild treffen würde.

Das Flaggschiff von Gerds Hof ist ein prachtloses, sonderliches Bauernhaus mit Nebengebäuden auf dem Höhenrücken der Kühlung mit einem traumhaften Ausblick auf Kühlungsborn und die Ostsee. Der Blick ist sagenhaft, weil tatsächlich sagenumwoben. Darüber hinaus ist es mehr in der gelebten Realität. Es ist das Zuhause; Existenz gleichwie Existenzsicherung und die Leidenschaft, mit der er, seine Familie und ihre Mitarbeiter sich um die Pflanzen kümmern und die Früchte zu hochwertigen Bioprodukten verarbeiten. Dieses Selbstverständnis ergänzt den professionellen, ökonomischen Umgang mit seelischer Tiefe, Stabilität und Kontinuität. Es stört nicht nur, dass er in jeder Hinsicht im Unklaren über seine Nachfolge auf dem Hof ist.

Bei allem Ärger, der von draußen hineinschlägt oder der in der Familie entsteht, schweißt das gemeinsame Kümmern um die Schönheit bislang zusammen.

›Hätte ich nur nicht.... Ich konnte doch nicht wissen, dass ...‹, Gerd verdrängt den Gedanken – eine seiner Stärken – und wähnt sich kurz wieder in blühenden Landschaften, die es ihm erleichtern, mit Harfenklängen zurück in die Realität zu gleiten. „Wer spielt was? Tschuldigt, ich war woanners“, sagt er nach einem Räuspern und dem Einnehmen einer aufrechteren Sitzposition infolge eines von dem Leid und der Schönheit geprägten romantischen Exkurses durch seine Lebenssituation. In letzter Zeit häufen sich seine geistigen Abwesenheiten zu zwei traumbasierten Nebenwelten an.

„Grand Hand!“, murmelt Steffen Grabow.

„Na toll“, sagt der aus Blumenwiesen und schwelenden Schreckensszenarien Erweckte. „Lutscht den Vogel bei null, verzichtet auf den Skat. – Und nu will er mit vier Bauern durchziehen.“

„Eher ohne zwei“, nuschelt Heinrich Berkel.

„Holla!“, entgegnet Gerd, der sich soeben auf einen sicheren, bequemen Verlust der Runde eingestellt hatte.

„Tja, Alter“, sagt Steffen, der auch in der Freizeit seinem äußeren Erscheinungsbild gesteigerte Aufmerksamkeit widmet. Er trägt eine offene, braune Tweedweste und ein gekrempeltes, blaues Hemd. Zur Weste passend die Hose über den schweren, mittelbraunen, rahmengenähten Blücher-Lederschuhen, die den englischen Stil vordergründig komplettieren, wenngleich ein Modell Derby die bessere Wahl wäre, wenn es nach detailverliebten Feingeistern mit einem Faible für Nähte von Schuhschäften ginge. Seine Armbanduhr ist die Hausmarke einer italienischen Luxusschmiede. Er hatte extra eine perfekt ins vorgestrige Arrangement passende Taschenuhr gekauft. Das alltägliche Tragen der Uhr und der kompletten Kombination mit den Abnähern an den Sakko-Ellenbogen und dem Lederrevers haben ihm seine Kumpels an der Grenze des Rausprügelns ausgeredet. Es war ein Freundschaftsdienst fernab von London, dem Britannien verbundenen Hamburg oder Hannover, wenn man die regionalen Einflüsse der Besatzer berücksichtigt. In Kühlungsborn, ehemals in der sowjetisch besetzten Zone liegend, ist britisches Understatement nicht mit norddeutscher Gelassenheit zu verwechseln, die eher einem ›Laissez-faire‹ gleichkommt, wobei Eigeninitiative im planwirtschaftlichen Apparat eine ausgeprägte Schattenexistenz auf privater Ebene führte. Dass diese Kreativität, fälschlicherweise schmunzelnd als Anpassungsfähigkeit und Einfachheit, versinnbildlicht durch das ›Organisieren‹ von Material oder dem Vorschlaghammer zur Zweitakter-Motorenreparatur, seit der deutschen Vereinheitlichung verkümmert, ist ein unbewerteter volkswirtschaftlicher und gesellschaftlicher Schaden, auf dessen Ausmaß und Folgen ein einziges Wort hinweist, das Spiegelbild allseitigen Unverständnisses, bezogen auf Gemeinschaft und Politik ist: Ohnmacht.

Steffen baut sich auf, wie ein Fasanenhahn, angestrengt über halsfederhohes Gras blickend. „Alter, Alter Alter, es scheint zu sein, wie bei euch zu Hause. Da glaubst du, ein Spiel auf der sicheren Seite durchzuspielen, ohne Störungen, oder dass eine deiner vier Töchter sich Hals über Kopf verliebt. Alles läuft super. Die ganze Familie ist im Kopp aufgeräumt und sie sind mit greifbaren Sachen beschäftigt. – Und aus dem Nichts kommt wieder ein dahergelaufener Bube, der aussieht, als wäre er bei einer Boygroup wegen des Alters rausgeflogen, steht vor dir in der Wohnküche zwischen den Bananen und will in die gute Stube.“

„Das ist ein etwas aus dem Ruder gelaufener Wintergarten. Was soll sein, wie bei mir zuhause? Hast du den Wunsch, dass ich dich vom Hof jage? Meine Schwägerin kannst du haben. Hauptsache ihr kommt dann nicht zu Besuch.“

„Das!“, sagt Steffen und knallt den Herzbuben auf den Tisch; nach landläufiger Meinung ein Fehler, weil Gerd, wenn er nicht mit Trumpf, einem Buben bedienen kann, er eine hohe Karte abwirft, die dann Berkel für das Team, das gerade gegen Steffen Grabow spielt, mit der stärksten Karte, dem Kreuzbuben, oder der zweitstärksten, dem Pikbuben sichert.

Gerd sieht Steffen an, kneift die Augen zusammen und grinst breit. „Anders als zuhause, werden hier die Jungs bedient.“ Er pfeffert klatschend ein Pik As zum Buben, sicher, dass Heinrich, der vollmundig behauptete, dass Steffen eher ohne zwei Bauern ins Rennen geht, mit einer stärkeren Karte bedienen und stechen würde.

Nichts davon passiert. Der geforderte Hellseher schnippt seinen Karobuben mit einem leisen Grummeln der Verachtung hinzu.

Das Spiel entgleitet ihnen körperlich, indem sie mit jeder gespielten Karte an Leichtigkeit gewinnen, und inhaltlich, weil ihre Verbindung auf gemeinsam gegossenen Fundamenten ruht. Skat hält sie nicht zusammen – Es ist eine liebgewonnene Routine; anders, als es Alternativen vermochten, die sie in der Vergangenheit probierten, um einen Anlass zu haben, beieinander zu sein. Sport mit Dauerbewegung wäre zu aufwendig, um den Atem zu haben, aufeinander einzugehen, ohne den Bewegungsrhythmus ins Gespräch zu tragen. Steffen spielt Golf. Viele seiner Neukunden, die mit Zweitwohnsitzen in der Region mit überdurchschnittlich zahlreichen Vierbeinern als sicht- und erlebbaren Ersatz für Fehlendes und generell Entgangenes, wurzeln mit ihren montierten touristischen Eckpfeilern entweder auf dem Golfplatz oder in der Marina. Er sucht Kundennähe. Nicht, wenn er mit einer meist deutlich jüngeren Begleitung in der Strandstraße sitzt, er in Erinnerung an die DDR-Milchbars das Softeis einsaugt derweil der Genuss am Meer, unter Baumkronen zwischen all den Menschen, die heute keiner Arbeit nachgehen, für sie jede bunte Kugel Eis nach Dolce Vita und besser far niente schmeckt und er seine Chancen steigen sieht. Ein wenig geeignetes Ambiente, auf dass ihm jemand unvermittelt, wie ein Topping fürs Eis, das akut nur aufs Leichteste verletzte Pfötchen des geliebten Vierbeiners prophylaktisch zur Untersuchung darzubieten. Die Präsenz und Erreichbarkeit haben in kleineren Sozialgefilden einen anderen Stellenwert als in der Großstadt. Es bedarf keiner Anstrengung, auf dem Lande rauszufliegen, bevor man drin ist.

Gerd ist dauernd an der frischen Luft, da treibt es ihn zum Ausgleich nicht auf den Golfplatz, argumentiert er. Bei Schmuddelwetter draußen zu sein, steht bei allen Dreien nicht auf der Liste der Begehrlichkeiten. Offiziell thematisieren Norddeutsche das Wetter nie – weil es passiert. Das bezieht sich einschränkend auf menschliches Wohlbefinden. In Bezug auf Nutzpflanzen versteht ein Bauer wie Gerd keinen Spaß, wenn es sich um Sonne, Wasser und Temperatur dreht. Sanddorn mit hohem Reifungsgrad ist ungewollt empfänglich für Sturm; ein weiterer Faktor.

Als Alternative zum Skat hatten die drei Freunde sich dereinst im Grillen versucht. Es gelang anfänglich, zumindest vom technischen Aspekt gesehen. In Ausübung hatten sie realisiert, dass sich es zu Hause nicht ohne unzumutbare Opfer bewerkstelligen lässt. Keine einvernehmliche Ruhe unter Mannsbildern konnte sich einstellen. Familienmitglieder oder Nachbarn sehnen sich genauso nach der Lagergemeinschaft am Feuer – mit abweichenden Prioritäten der gesellschaftlichen Interaktionen. Die in gelebter Realität stärker als gefühlt und proklamiert kommunizierenden Kumpels suchten sich einen externen Grillplatz. Er scheiterte an Gerd. Seine Ehefrau Sandy, ihre gemeinsamen Töchter und die Älteste, Amalie, entschieden von einem Tag auf den anderen, nachdem sie einen Bericht über Massentierhaltung im Fernsehen gesehen hatten, sich zukünftig vegetarisch zu ernähren. Er war genötigt, mitzumachen. Eine in multipler Hinsicht metabolische Etappe auf Gerds Weg der Erkenntnis ins Nirgendwo, die Zeit, in der die Damen seiner Familie wie Detektive auf der Suche nach dem Geruch von Fleisch und Röstaromen an ihm oder in seinem Atem ermittelten. Zum Erreichen einer fortgeschrittenen Entwicklungsstufe, bei der er, bewegt wie erregt vom Gutsein, Zucchini und geölte Auberginen auf den Grill legte und bei seinen Kumpels die Paprika und Zwiebeln nur dazu dienten, die prachtvollen Fleischstücke auf ihren Riesenspießen farbenfroh würzend voneinander zu trennen, ließ Gerd es nicht häufiger als exakt ein einziges erinnerungswürdiges Mahl kommen. Ob das Lungern um eine Wärmequelle im Winter urgemütlich ist, wenn diese Quelle der alleinige Grund ist, rauszugehen, hatten sie zuvor, in seiner noch karnivoren Zeit beantwortet. Das Problem, die nervende Kunst der persönlichen Freiraumverschaffung im familiären Umfeld ist, dass außerfamiliäre Routinen zwingend einzuhalten sind, um ihre Daseinsberechtigung aufrechtzuerhalten. Grillen schied aufgrund der kulturhistorischen Emotionalität und witterungsbedingt aus.

Sie versuchten es naheliegend mit Angeln. Klar ist es zusagender, wenn das Wetter mitspielt, und Gewitterangeln wäre ein rammdösiges Unterfangen. Ansonsten entscheidet die Kleidung. Da steht man mit den Stiefeln in den Urgewalten und argumentiert Schietwetter passend für den besten Fang in der Wildnis, die bekanntlich kein Hein für mäßigwüchsige Huftiere ist. Im Gegensatz zu Kanada dürfte die Dichte der Infrastruktur und der geografischen Detaillierung etwas höher sein, was immer noch bedeutet: Mann gegen und in Natur. Das ist eine andere Dramaturgie, als bei Regen in der Pampa ein totes Stück Fleisch mit dem Brenner anzukokeln. Direkt vor der Tür haben sie Reviere im Meer, an denen man auf seine Kosten kommt und der schwindende Fischreichtum der Ostsee sich dem professionellen Hobbyangler mit Revierkenntnis nicht kriegsentscheidend im Fang widerspiegelt. Es hängen nicht wie zu den guten Zeiten sechs Dorsche an der Strippe, gleich einem Tannenbaum mit Haken geschmückt. Es dauert mittlerweile länger. Vom Strand oder von einer der Seebrücken die Angeln auswerfen und ausharren; jenes Warten, das den eigentlichen Zweck bei Ihnen beinhaltet, das Beisammensein. Den Mund halten könnten sie, aber wozu? Bei dem Lärm brechender und anlandender Wellen ist die Ostsee nicht mit dem gebotenen Schweigen an der Müritz zu verwechseln. Ihre Familien goutieren jeden erfolgsgekrönten Fischzug, obwohl es keine Überraschung ist, aufs Positivste. Frisches, muskulöses Fischfilet löst bei Gerds Familienmitgliedern, die von vegetarisch zur Tierwohl-orientierten Ernährung gewechselt waren, entzückten Appetit aus und es manifestiert sich in einer Haltung der selbstverständlichen Erwartung bezüglich der nächsten ›Pirsch‹. Er ist Fleischesser und alles andere als ein Liebhaber aquatischer Arten jeglicher Form und Zubereitung. Jagderfolg ist Zwang und einzige Rechtfertigung des Beisammenseins, weil die Jagd, das Fischen zur Routine erklärt wurde. Die Wiederholungen und ein vermeintlich sicherer Erfolg, ziehen den Spannungsstecker und erklären das Abenteuer zur Planwirtschaft und sehen den Sieg als Pflicht.

Theoretisch. – Wie manches im Leben hat selbst das Angeln einen Haken – Vorfach samt Doppelhaken, Blinker und Blei außer acht gelassen. Die Fische beißen nicht zu jeder Jahreszeit und Tageszeit mit gleicher Häufigkeit und gleich hohem Fanggewicht. Hinzu kommen die Schonzeiten für unterschiedliche Fischarten. Die drei sind an der Küste bei Kühlungsborn aufgewachsen. Sie wissen trotz Überfischung, wann, wo, was in welcher Größe zu finden ist. Sie sind Angler und Jäger. Die Variablen haben sich gewandelt von der freien Auswahl und entsprechender Zielkalibrierung zu dem bestmöglichen Erlangen, was da ist. Von der Versorgungslage spiegelt die Ostsee von heute die DDR der Achtzigerjahre wider. Gleich dem frühen Aufstehen, um in der richtigen Schlange vorne zu warten, geht es auch nicht mehr, einfach ans Wasser zu fahren und Metten oder Sandaale auf dem Haken zu baden. Angeln ist auch gesellschaftlich nicht annähernd mit Skatspielen zu vergleichen, sondern es ist Jagd, Erfolg und Grundversorgung im Wettbewerb. Da hört der Spaß, genauso die Freundschaft auf.

Am Wochenende zwei Stunden früher aufzustehen, jede Woche, um seine beiden Freunde im eitlen Wettstreit in den auflaufenden Wellen zu besiegen, passt nicht zu den Zielsetzungen, die sie mit den wöchentlichen Treffen verbinden.

„Wir können ja mal wieder angeln gehen“, sagt Steffen.

„Was hast du vor?“ Gerd grinst ihn an. „Sandbank oder Leopardengrund? Du gehst immer auf Nummer sicher.“

„Ich dachte Sandbank. Wenn du einen großen Alten nach Hause bringst, kannst du deine Familie beeindrucken.“

„Bei dem Wetter und der Jahreszeit? Die Lütten von den Platten sind mir zu mickrig. Ich habe auch keine Lust, dass mich eine Sechsundzwanzigmeterwelle holt.“

„Sechsundzwanzig Meter? Mann Gerd! Das ist knappe dreißig Jahre her und war am Darß. Du warst zufällig nicht weit weg und nicht mal auf dem Wasser.“

„Nee, nee. Lass ma gut sein. Nu ist ersma ´n büschn Ruhe angesagt. Wech vom Nass un toten Tieren. Ich muss mich auch um meine Kinner kümmern. Die Mädchen tun fast alle Grappen im Kopp haben, außer Amelie.“

„Hast du einen sitzen?“, fragt Steffen Grabow, weil Gerd in Anbetracht der Monsterwelle in eine Phrasierung nachlassender Verständlichkeit gerutscht ist.

„Grappen? Du sabbelst Blödsinn. Zwei deiner Töchter kommen einen Tick nach ihrer Tante. Das stehst du durch“, sagt Steffen und schlägt seinem Freund sanft auf die Schulter. „Du liebst sie, deine Gören. Wie nennst du sie beim Neujahrsanbaden? ›Perlen der Kühlung‹.“

„Eigentlich ›Strandperlen‹. Sie sind ja meist am Wasser. Zumindest waren sie das. Bald sind alle aus dem Haus. Die Zeit rennt. Ich wünschte, sie würde stehenbleiben. Nicht nur deswegen. Es ist die ganze Sache.“

Steffen und Heinrich sehen wortlos von ihren Karten auf.

Gerd zupft sich mit Daumen und Zeigefinger das Hemd am Schlüsselbein zurecht und fährt fort: „Klar bin ich stolz und meine Schwägerin ist erträglich. Warum musste ich vier Töchter bekommen. Benjamin macht sein Ding. Söhne sind einfacher, irgendwie unwichtiger. Die Mädchen sind es, die mir die Haare grau werden lassen, auch wenn sie vernünftig sind. Alle verschieden, eine schöner als die andere. Und schlau sind sie – es sei denn, sie verlieben sich, dann sind sie dösig, außer Amalie. Ich habe es mir viel leichter vorgestellt. Die Zeiten haben sich geändert. Mit einem verzinkten Zwanziglitereimer mit Eiswasser ums Haus patrouillieren und die Jungs wie Hunde zu vertreiben, funktioniert nicht mehr. Alles ist in Bewegung und im Aufbruch. An praktische Dinge ist momentan nicht zu denken.“

„Was meinst du?“, fragt Steffen.

„Den Hof zum Beispiel. Ich habe keine Ahnung, ob und wenn, wer ihn übernehmen will. Es wäre in diesen Wochen, wo wir die Weichen für die Zukunft stellen müssten.“

„Warum ausgerechnet jetzt? War nicht dein Sohn Benjamin interessiert am Hof?“, fragt Heinrich.

„Der Sanddorn geht ein und wir müssen die Weichen für die Zukunft stellen. Es war sein größter Wunsch. Bis vor einem halben Jahr, ›war‹, wie er mir just eröffnet hat. Erstmal macht er sein Abitur. Mit links. Er feiert Partys und hat jede Woche eine neue Freundin, obwohl er ein bestimmtes Mädchen im Blick hat. Eine ernsthafte Beziehung, die auf Gemeinsamkeiten außer Rumjuxen wurzelt, ist von ihm ähnlich entfernt wie die Landwirtschaft. Merle ist anders. Man glaubt es nicht, dass die beiden Zwillinge sind. Sie ist bodenständig, überlegt, diszipliniert – eher die Art von Amalie, mit einer gegensätzlichen Richtung.“

„Ich weiß, Homer statt Hippokrates“, kommentiert der Tierarzt Steffen Grabow. „Sie wird ihren Weg gehen.“

„Nach sesshaft und Sanddorn sieht mir das allerdings nicht aus. Josephine träumt von Architektenwettbewerben für Kunsthallen und Flughäfen im Ausland. – Und Marlene? Meine Leni. – Tja, was die vorhat, steht in den Sternen; mit Kühlungsborn hat das nix zu tun. Ich habe mich zu entscheiden, wohin ich den Hof entwickle. Keine Ahnung, was das Sanddornsterben verursacht. Die Flächen kann ich nicht ewig vorhalten und mit der mickrigen Ernte steigen unsere Kosten. Wer weitermacht, das bin ja wohl ich, kommt ums Nachpflanzen nicht drumrum.“

„Das ist bei den anderen genauso mit der Nachfolge – und mit den Beeren“, beschwichtigt Heinrich, als würde das Problem geringer und die Preise höher.

„Du hast gut Reden. Bei dir ist alles geritzt. Enrico übernimmt den Malerbetrieb, er hat schon gebaut und du kannst jederzeit aufhören. Dass deine Schwiegertochter anders aussieht, als du wünschst, kommt in den besten Familien vor. Ich finde sie besonders freundlich.“

„Das ist sie aber sie passt nicht hierher. Du hast deutschen Sanddorn. Das ist Gold wert.“

„Schnacker. Einer wird umfallen und seinen Nektar mit dem chinesischen, bis zum Abwinken subventionierten Mist strecken oder gießt deren dehydriertes Mark direkt mit Wasser auf. Wer Gold ernten will, muss auch Gold sähen.“

„Ihr habt Fremdenzimmer. Auf dem Hof und in der Stadt. Das sind sichere Einnahmen“, sagt Heinrich Berkel, der einen Teil seines Betriebsgrundstückes, das in einer Toplage von Bad Doberan ist, bebaut und konventionell vermietet hat. Er ist ab und an von einem Anflug von Neid auf die hohen Erträge von Ferienunterkünften am Meer befallen. – Im Sommer, zur Hochsaison. Das Vorhalten von beheiztem Wohnraum würde ihn verrückt machen.

„Wie jeder, der ein Zimmer übrig hatte. Ein sicherer Hafen ist was anderes. Manch einer hat keinen Bock mehr. Es ist schnelllebiger. Die Zeiten der Stammgäste ebben ab und die Aufenthalte sind kürzer. Da braucht die Pandemie nicht erneut zu kommen – da reicht ein verregneter Sommer. Und das Geld regnet den Urlaubern nicht aus den Taschen. Was bringt das Sabbeln, wenn ein Palmenstrand auf einer armen Insel günstiger ist? Work-Life-Balance und für den Regenwald demonstrieren?“ Gerd zupft aufgeregt beim Schlüsselbein an einer unsichtbaren Falte seines Hemdes.

„Einer Urlaubsregion mit Palmen vorwerfen, dass sie sich vermarktet, und einer deutschen Familie vorschreiben, wohin sie fährt – und was sie ausgibt? Wo bist du falsch abgebogen oder hängengeblieben?“, sagt Steffen.

„Stimmt. Wir gucken zu und reagieren nicht auf Veränderungen, hoffend, dass es bleibt, wie wir es gewohnt sind.“

„Los Jungs! Was für eine Attraktion, die andere nicht haben, brechen wir da übers Knie? Die größte Hüpfburg der Welt? Indoor, damit bei Schietwetter und im Herbst Gäste kommen? Eine falsche Entscheidung und wir entwickeln uns vom beschaulichen, blitzsauberen Ostseebad zum unverwechselbaren ›Ballerborn sechs Kilometer‹, immerhin länger als das Original“, sagt Berkel, der, wie in der Region mehrheitlich Übereinstimmung besteht, in einer Idee den qualitativen Tourismus dem quantitativen vorzieht, was Auswirkungen hat oder haben sollte; von dem Angebot bis zum Bebauungsplan. Es wirkt sich nicht auf alles aus und es versiegt der Schwall an Ambitionen im Sand unterschiedlicher Interessen, bevor ein dem Anspruch gerechtes Leitbild mit einer geringen Chance auf Umsetzung entstehen kann.

„Ein Rückgang der Urlauber und ich kann die Produktion für den Vor-Ort-Verkauf vergessen. Die Zeiten sind flotter, ohne adretter zu sein. Da versuch einer, in dieser Zwangslage Substanz zu schaffen. Zum Beispiel direkt von Sanddorn auf Schlehe umsteigen, was geschieht?“

„Mit der kannst du nicht alles anstellen. Du wirst hauptberuflicher Schnapsbrenner“, kontert Berkel pragmatisch und produktorientiert. Als ginge es darum, eine Pfütze auf der Straße zu umfahren, um nicht in die alternativ bereitstehende, vierundzwanzig Stunden geöffnete Waschanlage zu fahren.

„Super Idee. Da viele auf Schlehe wechseln, ist es total förderlich, dass insgesamt weniger gesoffen wird.“ Gerd hält inne, sieht kurz zur Seite aus dem Fenster und findet in der sichtbar von der Kälte gefangenen Natur ein Argument: „Rosi, machst du uns bitte drei Lütte – für‘n Weg schonmal?“, ruft er in einer unnötigerweise mittleren Lautstärke, damit sie sich direkt angesprochen fühlt. Als ansässige Wirtin findet sie namentlich Erwähnung in manchem Tischgespräch, ohne dass es mit einer Bestellung zu tun hätte.

Gerd wendet sich zurück. „Heinrich, das ist für die Gastronomie schwierig. Es hat sich eine Menge getan. Gut, bei uns auf dem Land gab es zu keiner Zeit was anderes als Home-Office, aber bei den Urlaubern haben sich die Erwartungen und Ansprüche geändert. Früher hatten sich Touristen gerne und wiederholt die Kante gegeben. In Kampen, mit den ganzen Touris und mit üppigen Zweitwohnsitzen bleibt das erhalten. Der letzte Saufposten in einer geläuterten Welt.“

„Lass sie tanzen. Solang der faschistisch pöbelnde Mob die Schnauze hält“, sagt Steffen, der gegen jede Form nationalistischer Überschätzung der ungewollte Meister des Fremdschämens ist, wenn es um Fremdenfeindlichkeit geht.

„Ich will mal so sagen. So ganz unrecht haben sie aber nicht. Schließlich werden unsere deutschen Frauen belagert und bedroht und die Politiker tun nichts“, mahnt Berkel, der erleichtert ist, dass zumindest die Bürger der östlichen Bundesländer, seiner Meinung folgend die Zeichen der Zeit erkennen und bei den Wahlen zum Ausdruck bringen.

„Du gehst mir immer öfter mächtig auf den ...“

Steffen bringt den Satz nicht zu Ende. Gerd greift ein. Er, der, wenn er zuhause bei den unumstößlich erhaben guten Menschen, wie Gattin, Schwägerin und vor allen anderen Hanna die Traute hätte, es zu sagen oder auszuleben, in beeinflussbarer Nähe an Berkels Meinung wäre. Er teilt sie, weil sie mühelos nachzuvollziehen ist, es gut und böse gibt und das Problem ein Gesicht erhält. Gerd greift ein, indem er nicht Steffen darum bittet, nicht unflätig zu argumentieren, sondern sein eigenes Korrektiv verwendet. „Heinrich, lass das nicht meine Schwiegermutter hören. Das rummst.“

„Wieso? Hanna hat selbst gesagt, dass zu viele von denen reingelassen werden und Schluss sein muss“, widerspricht der Zurechtgewiesene. Gerd zupft sich das Hemd zurecht.

„Und ›Klatsch‹ fingest du gleich die Nächste, weil du sie falsch wiedergegeben hast.“

„Er kann eine von mir gelangt kriegen“, sagt Rosi mit Speisekarten im Arm, im Vorübergehen, als sich zwei Fremde an einen Tisch am Fenster neben dem Eingang verirrt haben, und sie giftet mit ihrem Blick Richtung Berkel. Die Männer reagieren nicht, sondern vertiefen sich in ihre Spielkarten, in der Körperhaltung eher gedrungen, etwas die Schultern schmälernd. Rosi erscheint erneut. Diesmal mit den Kurzen, den Hochprozentigen auf einem runden Tablett.

„Das gilt genauso für dich“, sticht sie zum Zupfenden. „Hanna vorzuschieben macht Deutschtümler kein Fitzelchen liberaler. Sie hat Probleme mit den Halbstarken Anfang, Mitte Zwanzig, die zuhause, egal wo das ist, vor dem Krieg oder der Diktatur flüchteten, obwohl sie kämpfen könnten, und sich – nun sag ich es – bei ›uns‹, feige wie sie sind, aufspielen. Dass sie einen Kulturschock erleben, tut uns unendlich leid. Dann müssen sie eben zuhause bleiben und kämpfen, protestieren oder arbeiten. Prost Jungs!“, sagt sie und lässt das Tablett mit den gefüllten Schnapsgläsern auf dem Tisch stehen. Keine fünf Sekunden später kommt sie zurück.

„Obwohl, dass sie in Italien auf die Barrikaden gingen, wenn die Europäische Union sie ermahnen sollte, die Lizenzen für Gondelfahrer in Venedig europaweit auszuschreiben, würde ich verstehen. Dann wäre was schräg im System.“

„Sag ich doch“, schließt Berkel drucklos ab. „Das fehlt uns bei unseren Strandkörben. Zum Kotzen ist das.“

„Alles eine Frage der Bewertungskriterien“, sagt Gerd. „Schreib was rein, das nur Ortsansässige liefern können.“

Steffen räuspert sich. „Wie war das mit dem rückläufigen Alkoholkonsum und der Schlehe als Anbaualternative zum Sanddorn?“, fragt der Veterinär und greift zum Glas.

„Zeitgeist? Generation Z? Die Bierbrauereien, die nicht rechtzeitig auf Alkoholfreies umgestellt haben, sind in der Krise. – Und ausgerechnet ich fange an, Schnaps zu brennen? Perfekt. Ein Anruf bei Günni und wir erfinden gemeinsam bei einer Verköstigung den Namen für ein hippes Trendgetränk, pinseln ein modernes Logo, meine Töchter als sexy Influencer für Schlehe, drei witzige Selfies auf der Seebrücke, einen Videosequenzkanal mit Beinaheunfällen unter Alkoholeinfluss und der Bonsche ist gelutscht“, Gerd greift zum Schnapsglas: „Es geht unaufhaltsam in Richtung nullkommanull Promille. Daran ist nichts zu rütteln.“ Er erhebt genussfähig das Glas mit zweiundvierzig Volumenprozent, den Mitspielern zuprostend und trinkt auf ex.

„Garantiert investiert ein Hollywoodstar. Die stehen auf Hochprozentiges als Geldanlage“, weiß Berkel in der ihm eigenen unnachahmlichen Einfühlsamkeit beizutragen.

„Witzig! Das wäre Schlehe statt Tequila und Kühlungsborn statt Cabo San Lucas. Ein Selbstläufer“, knallt Steffen raus, dessen Besatzdichte im freitäglichen Wartezimmer deutlichen Spielraum für Online-Allgemeinbildung lässt. Er sieht Gerd an. „Dein Hof ist nicht belastet.“

Der Angesprochene zuckt, wie er im Augenblick hofft, von den anderen unbemerkt zusammen.

„Du hast Einkünfte aus den Ferienwohnungen und eurer vermieteten Burg in der Strandstraße. Euch kann nichts passieren“, fährt Grabow fort, um seinen Freund vor übermäßigen und voreiligen Aktivitäten zu bewahren, wie der Anpassung und Erweiterung der gesamten Verarbeitungsstrecke.

Gerd juckt die Nase. ›Das verdammte Hemd ist zwei Nummern zu groß für mich. Ich bin Extra Large, nicht fett. Es sitzt wieder komplett schief und legt sich in drückende Falten, absichtlich.‹ Es hilft ihm, von seinen Sorgen abzulenken und sich zu fassen. „Ich wüsste allmählich zu gern, mit wem in der Familie man sich über meinen Hof ernsthaft unterhalten kann“, sagt er, den Hof ansprechend und sich meinend.

Steffen, der mittlerweile die Skatrunde und zwei weitere gewonnen hatte, runzelt die Stirn, spitzt die Lippen, senkt den Kopf und sieht Gerd direkt über das Gestell seiner Brille mit den kreisrunden Gläsern in die Augen.

„Genaugenommen ist es der Hof von Sandy und ihrer Schwester Trixi. Präzise und auf dem Blatt ist es mehrheitlich der Hof deiner lieben Schwiegermutter, der Hanna.“

Gerd hält dem Blick seines Freundes stand und verzieht keine Miene, derweil er zwei Asse mit einer Trumpfkarte, in dieser Runde – er spielt ›Herz‹ – reicht die Sieben, einkassiert.

„Sandy versucht, die Familie und den Hof zu stärken, indem sie sich um alles kümmert und nichts verändert. Meine Schwägerin hätte seit langem wieder verheiratet sein Sollen – denkt sie und es beherrscht ihr, wie sie meint, verpfuschtes Leben – von morgens bis abends. Kommen wir auf das Highlight zu sprechen. Hanna. Da der Freigeist der Achtundsechzigerjahre ihr vorenthalten blieb, holt sie es nach. Sie spielt, dass es ihr egal ist, wie ich mit ihrem Hof wirtschafte. Sie findet alles ›hübsch‹, wenn es ihr nicht im Weg steht, und sie sich aufmacht, am Strand, am Hafen oder in einer anderen Kneipe in Brunshaupten ihren täglichen Sundowner zur Brust zu nehmen. Täuscht euch nicht in ihr.“

„Weiß deine sturköpfige Schwiegermutter, dass es schon zwei Jahrzehnte kein Brunshaupten mehr gab, als sie zur Welt kam – in Kühlungsborn?“, gibt Berkel zum Besten.

„Sie ist, wie sie ist. Ich kenne niemanden, der so fortschrittlich denkt und neue Wege zu gehen bereit ist, und doch hält sie wie die Ältesten an der getrennten Sicht der Orte fest, und wo jemand lebt. Sie fährt ein winziges Elektromobil und würde nicht scheuen, einen Riesendiesel hinzustellen, wenn es um die Welternährung ginge. Die Frau ist mir ein Rätsel.“

Steffen, ein Fan ihrer Aufrichtigkeit und verunsichert von ihrer Direktheit, nickt und lächelt. „Das ist sie. Sie ist eine Marke und ein Gewinn. Ihre Stimmung ist ansteckend.“

Heinrich grinst. „Und ist sie angefressen, geht man ihr besser aus dem Weg. Ich bin da der Erste. Politische Debatten mit einer Ober-Oma-Emanze sind nicht zu reißen. Die Olle hat keine Beißhemmungen. Ein Maulkorb für sie würde ihr nicht übel zu Gesicht stehen und uns nicht schaden. Was Steffen?“, wagt sich der einem europabefreiten Nationalstaat nicht abgeneigte deutsche ›Draufzahler‹ kilometerweit hinaus auf das Eis und klopft dem Tierarzt auf die Schulter, als hätte er ihm mit dem Hinweis auf einen Beißkorb eine branchennahe Steilvorlage gegeben.

Steffen Grabow zieht die Augenbrauen Richtung seines hohen, rötlichen Haaransatzes. Ein unkontrolliertes, winziges Zucken wie ein Kammerflimmern durchwandert seine linke Wange. Er senkt den Kopf und fasst sich ins Gesicht. Immer die gleiche Reaktion auf seinen Kontrollverlust. Wenn sie nicht Skat, sondern Poker spielten, wäre er das ideale Opfer zum Ausnehmen. Er ist nicht in der Lage, seine Gefühle zu verbergen oder in Eiseskälte zu lügen.

Berkel sieht sich mit ungesicherter Flanke und entscheidet sich für einen Abbruch des Vorstoßes durch Richtungsänderung. „Wir setzen Hanna auf Tagestouristen an. Dann benehmen die sich besser.“

„Was hast du gegen die? Sie düsen an, parken oder steigen aus dem Bus, springen ins Wasser, gehen essen, kaufen ein und sind wieder weg. Durch die Einbahnstraßenregelung an der Strandstraße behindern sie sich nicht einmal gegenseitig, wenn sie die Straßenseite wechseln.“

„Komm mir bitte nicht auf die Billige, Steffen“, sagt Heinrich. „Ich kenne die Erhebungen und Analysen, dass die Tagestouristen wirtschaftlich von Vorteil für unsere Region sind. Nichts steht da von Pfeifen auf allgemeine Benimmregeln und Höflichkeit oder dem Regalbummel im Supermarkt, wo andere einfach ungehindert einkaufen wollen.“

Steffen runzelt die Stirn, als würde er angestrengt nachdenken, was faktisch nicht der Fall ist. „Rein logisch heißt es nicht, dass, wenn sie sich nicht gut benehmen, sie sich automatisch schlecht benehmen.“

Heinrich prustet mit einem Schluck Bier im Mund los. „Sowas kann echt nur von dir kommen. Alleinstehend und bester Dinge, solange die Katzen und Köter in deinem Wartezimmer nicht übereinander herfallen. Dass sie dir reinscheißen, gehört zum guten Ton.“

„Darauf trinke ich. Prost!“, sagt Gerd mit angewidertem Gesichtsausdruck, bei dem sich seine Nasenwurzel unter Bergen von Hautfalten vergräbt, als hätte er Essig im Glas, und wartet einen Moment, bis sich das Bild des Raumes und das Abbild des Geruches verflüchtigen.

„Prost!“

„Prost!“

Nach dem Anstoßen trinken die drei zeitgleich den Rest ihrer Biere aus den dünnwandigen Gläsern.

„Rosi! Zahlen bitte.“

„Gerd, bist du heute dran?“, ruft Rosi, die Inhaberin der „Dünenkate“ zurück.

„Jo!“

„Warte bitte gleich. Ich will dir ein Paket für Sandy mitgeben“, sagt Rosi und eilt, nachdem Gerd gezahlt hatte, sofort wieder nach hinten und kramt im Lager herum.

Die Dünenkate, ein überschaubares, seit zwanzig Jahren mit Dachpfannen statt Reet gedecktes Backsteinhaus, steht seitlich am Ende einer hundertjährigen Allee aus jährlich zurückgeschnittenen Linden, deren oberster Teil vom Stamm wie ein Kugelkopf verdickt ausgebildet ist. Sie sehen genauso aus wie die ältesten gepflanzten Bäume in der Strandstraße von Kühlungsborn; im März pittoresk kärglich. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie akkurat und prachtvoll sie im Frühling und Sommer bis in den Frühherbst die schmale Straße flankieren. Gleich ihrem städtischen Pendant führt diese doppelte Baumreihe zum Meer; indes fehlen der Ausgangspunkt und die flankierenden Attraktionen, die kostbaren, verzierten Schatullen von Gebäuden, aus denen die Gäste kommen, die unter den im Sommer gefüllten Baumkronen prominieren und lustwandeln. Die Allee an der Dünenkate weist in eine Richtung, wo es keiner Leitung bedarf. Sie steht schützend vor der Sonne, für diejenigen, die nichts von ihr wissen oder sie nicht brauchen, und die Bäume sind im Gefüge eine nutzlose Einheit wie eine verwaiste Autobahnbrücke ohne Anbindung im Niemandsland.

Die Stellplätze, die sich plattgestanden durch den ruhenden Verkehr vor der Dünenkate ergeben, sind mit sandigem Lehmkies befestigt. Die Männer stehen an ihren Autos und verabschieden sich, derweil Rosi mit einem Paket in Mikrowellengröße im Arm hastigen Schrittes herangerauscht kommt. „Mach die Heckklappe auf! Los!“, sagt sie kurzatmig.

Gerd hechtet zur fünften Tür seines Geländewagens, öffnet diese und sie schmeißt das Paket hinten rein. Ein dumpfer Ton, wie ein harter Schlag in ein Kissen. Es klappert nicht, es knallt nicht, es kracht nicht. Rosis Wangen und ihre Atmung lassen darauf schließen, dass es schwerer als zehn Kilo ist.

„Sag ein Wort! Ich hätte dir geholfen.“

„Hätte, hätte, sagt der Fette. Verliere dich nicht in ungelegten oder nicht gefundenen Eiern. Erst recht nicht, wenn du nicht suchst.“

In Ermangelung eines Argumentes spart Gerd sich einen Kommentar zum Phrasenbombardement. „Ich frag nicht, was drin ist“, lenkt er ab. Der Satz war dahingesagt. Er erwartet nicht, von Rosi zu erfahren, was in dem Paket ist – genauso wie sie keine Anstalten macht, es zu erzählen oder ihm zu signalisieren, dass es ihn in irgendeiner Form zu interessieren hätte. Da auch weitere transportbezogene Anweisungen sowie Dringlichkeitshinweise ausbleiben, vergisst er das Paket im Moment des verlorenen Sichtkontaktes.

„Macht’s gut, Jungs! Bis nächste Woche!“

„Tschüss Roswitha.“


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